Quarantini-Time für die deutsche Leitkultur

Ein Auszug aus Max Czolleks neuem Buch Gegenwartsbewältigung anlässlich der Diskussionsveranstaltung mit ihm und Deniz Utlu zu den Tagen der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur.

Zwischen dem 3. Oktober und dem 9. November 2020, findet der dezentrale Kongress „Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur“ an verschiedenen Kulturinstitutionen im deutschen Sprachraum statt, um zu zeigen, was bereits an radikaler kultureller Vielfalt existiert. Eine Diskussion dazu hätte im Rahmen der globale° 2020 im Theater Bremen stattfinden sollen, jetzt wird die Veranstaltung online übertragen: Am 1. November diskutiert Max Czollek mit Deniz Utlu. Sie finden die Übertragung auf dem YouTube Channel der globale°. Anlässlich dessen, dürfen wir diesen kleinen Auszug aus seinem Buch Gegenwartsbewältigung, erschienen 2020 bei Hanser, veröffentlichen:

Die erzwungene Isolation, in der Deutschland sich ab Mitte März 2020 befand, führte bekanntlich schon in den ersten Wochen zu einem Innovationsschub. All die digitalen Videoformate, Konferenzen, Präsentationen, Lesungen und Performances vor unseren Laptop-Kameras, für die wir uns vermutlich noch lange schämen werden. Scherz. Ungleich wichtiger und produktiver war da schon die Erkenntnis, welche Dinge wirklich notwendig sind für ein Zusammenleben in diesem Land. Wir gaben uns beispielsweise kaum noch die Hand und wendeten uns auch nicht mehr die Gesichter zu – und die deutsche Gesellschaft brach nicht zusammen. Dabei waren das doch zwei jener untrüglichen Zeichen, die der ehemalige Innenminister Thomas de Maizière 2017 als Ausdruck deutscher Leitkultur bezeichnet hatte. Aus seinem „Wir sind eine offene Gesellschaft. Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.“[1] wurde im Frühling 2020 ein „Wir sind Schutzmaske.“

Im Neonlicht der Handyscreens und Krankenhauslampen erhielten die Dinge schärfere Konturen, als sie zuvor gehabt hatten. So ermöglichte die Ausnahmesituation auch einen neuen Blick auf die unmittelbare Gegenwart und ihr kulturelles Selbstverständnis. Die Ausgangssituation ist in den letzten Jahren unterschiedlich gedeutet worden, prominent etwa durch Andreas Reckwitz. Der Soziologe an der Berliner Humboldt-Universität geht für derzeitige westliche Gesellschaften von der Existenz zweier entgegengesetzter Kulturverständnisse aus: Während (neue) mobile Eliten ein „kosmopolitisches“ Kulturverständnis verträten, das Reckwitz als „Hyperkultur“ bezeichnet, folgten nichtmobile Bevölkerungsteile aus (alter) Mittel- und (neuer) Unterklasse einem Kulturessenzialismus, der „Kultur als feste[n] Ort beziehungsweise als Medium der kollektiven Identität von Gemeinschaften“ begreife.[2] Also etwa als klar von anderen Staaten abgrenzbare Vorstellung einer nationalen Kultur. Einer solchen Vorstellung steht Reckwitz zufolge die elitäre Hyperkultur gegenüber, bei der die „globale Kultur als ein einziges, riesiges Reservoir vielfältiger Ressourcen der Selbstverwirklichung“[3] gilt – statt Leitkultur also ein kultureller Selbstbedienungsladen von Aikido bis Yoga, vom Leben in skandinavischem Design bis zur gediegenen Abendgestaltung mit einer Arte-Themennacht zum Film noir. Aus den endlosen Regalen der Weltkultur schöpfe eine neue kosmopolitische Elite, um sich in unverkennbarer Singularität, wie Reckwitz das nennt, neu zu erfinden.

Nun ist es vielleicht nicht falsch, dass diese Bedürfnisse nach unverwechselbarer Singularität in manchen Milieus existieren, die Frage ist aber, ob die Gegenüberstellung von Leit- und Hyperkultur die Problemlage angemessen erfasst, die mich im Folgenden beschäftigt. So wissen wir etwa, dass in allen westlichen Gesellschaften (Post)Migrant*innen leben, die in der Mehrheit aus dem Bereich der nationalen Kultur ausgeschlossen sind. Die Forderung nach der Anerkennung dieser (post)migrantischen Realität erfolgt gerade nicht vor dem Hintergrund einer Hyperkultur, sondern will eine Reflexion darüber anregen, wer und was eigentlich zur Kultur dieses Landes gezählt wird. Damit betreibt sie kein Elitenprojekt, sondern Ideologiekritik.

Auch Reckwitz’ Annahme, vor allem Menschen aus der „neuen Unterklasse“ würden die Kultur essenzialisieren[4], geht an der Kritik am Ausschluss migrantischer und migrantisierter Gruppen vorbei, sind doch gerade diese Gruppen in der Unterklasse überproportional vertreten. Ein Zusammenhang, den der Siegener Soziologe Rainer Geißler als Unterschichtung bezeichnet, was bedeutet, dass Migrant*innen „in den unteren Schichten häufiger und in den höheren Schichten seltener platziert [sind] als Einheimische.“[5] Die Kritik an Konzepten wie Leitkultur ist auch in diesem Fall keine Elitenperspektive, sondern unterstreicht, dass sich die nahezu doppelt so hohe Zugehörigkeit (post)migrantischer Bevölkerungsteile zur sogenannten Unterschicht auch in einer doppelten Aberkennung ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland und seiner Kultur spiegelt. Stichwort Klassismus. Stichwort Rassismus.

Dieser Prozess der Aberkennung kultureller Teilhabe kann durch Reckwitz’ Gegenüberstellung einer elitären Hyperkultur und eines Kulturessenzialismus (alter) Mittel- und (neuer) Unterklasse nicht abgebildet werden. Darum meine ich, dass sich diese vielfach gepriesene und ausgezeichnete Anordnung der Gegenwart nicht für eine Kritik der Ausschlüsse eignet, die die hierzulande herrschenden Vorstellungen nationaler Leit- bis Hochkultur produzieren. Sondern im Extremfall sogar dazu führen kann, die Diskussion dieser Ausschlüsse durch die falsche Gegenüberstellung „kosmopolitischer“ und „kulturessenzialistischer“ Positionen zu verhindern.

Darum soll es im Folgenden gehen. Die Aberkennung kultureller Teilhabe lässt sich gut an folgender Einschätzung der Literaturkritikerin Thea Dorn illustrieren. 2018 urteilte sie in ihrer Gedankensammlung deutsch, nicht dumpf:

            Fünfzig bis sechzig Jahre, nachdem die ersten türkischen
            Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind, müssen
            wir nüchtern feststellen, dass die deutsche Kultur
            nahezu nichts von der Kultur in sich aufgenommen hat,
            die diese Gastarbeiter mitgebracht haben.[6]

Dieses Urteil ist derart weit entfernt von der Realität da draußen, dass ich mich frage, ob Dorn in derselben Zeit lebt. Wie steht es mit den Impulsen, die erst vom Ballhaus Naunynstraße und dann vom Maxim Gorki Theater ausgingen und die mit dem postmigrantischen Theater einen zentralen kultur- und gesellschaftspolitischen Begriff des vergangenen Jahrzehnts etablierten? Wie ist es mit Hiphop, Popmusik, Neuer Musik? Wie mit der Literatur, von Sharon Dodua Otoo uber Lutfiye Guzel bis Mely Kiyak, von Ronya Othmann uber Hengameh Yaghoobifarah bis Deniz Utlu? Und da habe ich noch nicht mal damit angefangen, all die wichtigen jüdisch-migrantischen Stimmen aufzuzählen, die den Laden in den letzten Jahren aufgemischt haben.

Nein, Dorn beschreibt nicht die Gegenwart, ihre Darstellung ist vielmehr ein Symptom dafür, wie eine tradierte Perspektive auf die deutsche Kultur die Wahrnehmung verschleiern kann – eine Perspektive, die zutiefst politisch ist und Ausdruck eines lange kultivierten Selbstverständnisses derjenigen, die sich auch heute nicht vorstellen können oder wollen, dass die Realität sich hierzulande verändert hat.

Statt dieses überlieferte kulturelle Selbstverständnis mit der deutschen Gegenwart abzugleichen, vollzieht Dorn ein für Verteidiger*innen nationaler Leitkultur typisches Manöver – sie suggeriert, das entscheidende Problem deutscher und europäischer Kultur läge bei den Kosmopolit*innen, wofür die Autorin wenig überraschend Reckwitz anführt.[7] Die kosmopolitischen Eliten heißen bei Dorn „kosmopolitische […] Nomaden“[8] und können keinen „existentielle[n] Schmerz“[9] mehr fühlen, da es ihnen an der Verwurzelung in ihrer jeweiligen nationalen Kultur mangele.

Das ist Kulturessenzialismus, wie er in Reckwitz’ Buche steht, und als solcher ganz und gar nicht nur harmlose Sorge um die Qualität von Kunst, wie Dorn ihren Leser*innen gern weismachen möchte. Das wird im historischen Vergleich besonders deutlich. Die Argumentation, erst nationale Verwurzelung ermögliche gute Kunst, erinnert mich nämlich nicht ganz zufällig an den berüchtigten Essay des Pompkomponisten Richard Wagner Das Judenthum in der Musik von 1869, einen Text, den Dorn als bekennender Opernfan sicherlich kennt. Dort heißt es über die Sprache:

            Eine Sprache, ihr Ausdruck und ihre Fortbildung, ist
            nicht das Werk Einzelner, sondern einer geschichtlichen
            Gemeinsamkeit: nur wer unbewußt in dieser Gemeinsamkeit
            aufgewachsen ist, nimmt auch an ihren Schöpfungen
            theil.[10]

Für Wagner wie für Dorn auf ihre je spezifische Weise ist eine Verwurzelung in der jeweiligen nationalen Kultur Voraussetzung für gelingende Kunst. Dorn bezeichnet das als „kulturelle Identität“, die sie konsequenterweise für „höchst verwandt, wenn nicht gar für austauschbar“[11] mit dem Begriff Heimat hält. Erst die Verwurzelung in der jeweiligen Kultur bilde die Voraussetzung für einen „tiefen, echten Schmerz […], der dann unweigerlich zum Schmerz übers Allgemein-Menschliche in all seinen Irrungen und Wirrungen wird.“[12] Dieser kulturellen Verwurzelung stehen diejenigen gegenüber, denen es an Wurzeln mangelt. Wer das sein könnte? Bei Dorn sind es die „Globalhedonisten, die rastlos durchs Internet surfen oder um den Globus jetten, jeder Rosine hinterherjagend, die ihnen verlockend erscheint.“[13] Beim Antisemiten Wagner sind es bekanntermaßen die Juden unter den Komponisten, über die er schreibt, sie würfen

            die verschiedenen Formen und Stylarten aller Meister
            und Zeiten durch einander. Dicht neben einander
            treffen wir da im buntesten Chaos die formellen Eigenthümlichkeiten
            aller Schulen angehäuft.[14]

Richard Wagner formuliert hier ein paar Glaubenssätze eines spezifisch deutschen Nationalismus, in dem sich völkisches Denken und die Vorstellung kultureller Überlegenheit verbinden und auf den ich gleich genauer eingehen werde. Nun bin ich mir sicher, dass Dorn Wagners Antisemitismus nicht teilt. Aber die Bezüge zu diesem Denken reproduziert sie doch mit derselben Naivität, die sich auch bei der Wiederaufnahme des politischen Heimatbegriffs findet: Weil man es gut meint und es sich außerdem gut anfühlt, muss es auch gut sein. Der Vergleich mit Wagners antisemitischer Bestimmung guter Kunst könnte hier als Warnung dienen, sich immer wieder das Fahrwasser bewusst zu machen, in das man sich begibt, wenn man in der Gegenwart einen nationalen oder europäischen Kulturessenzialismus vertritt.

 

[1] Thomas de Maizière, „Wir sind nicht Burka“: Innenminister will deutsche Leitkultur, 30.4.2017, Zeit Online, www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/thomas-demaiziereinnenminister-leitkultur/komplettansicht

[2] Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 24 – 25

[3] Reckwitz 2019, S. 36

[4] Reckwitz 2019, S. 45 – 46

[5] Rainer Geißler, Migration und Integration, S. 40 – 53, in: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 324 /2014, Sozialer Wandel in Deutschland, Bonn 2014

[6] Thea Dorn, deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten, Munchen 2018, S. 27.

[7] Dorn 2018, S. 126 –129

[8] Dorn 2018, S. 129

[9] Ebd.

[10] Richard Wagner, Das Judenthum in der Musik, Leipzig 1869

[11] Wagner 1869, S. 14

[12] Dorn 2018, S. 130

[13] Dorn 2018, S. 128

[14] Ebd.