20 Prozent Talent und 80 Prozent Persönlichkeit? – Ein Abschiedsinterview

Nach fünf Jahren verlässt Bariton Birger Radde das Ensemble des Theater Bremen, im Video Was bleibt von Ariadne ist er noch einmal zu sehen. Musiktheater-Dramaturgin Brigitte Heusinger verabschiedet sich mit einem Porträt.

Nach fünf Jahren verlässt Bariton Birger Radde das Ensemble des Theater Bremen, im Video Was bleibt von Ariadne ist er noch einmal zu sehen. Musiktheater-Dramaturgin Brigitte Heusinger verabschiedet sich mit einem Porträt.

Wir treffen uns im Büro. Fenster auf, großer Abstand. Ich sitze auf einem Sessel, er auf dem Sofa. Ich frage, er antwortet. „Ich fühle mich gerade wie in einer psychoanalytischen Sitzung“, sagt er lachend und legt sich kurz mal quer. Setzt sich dann wieder auf und drapiert seine Maske wie ein Spaßhütchen auf dem Kopf. Untypisch, denke ich, er ist doch ein ziemlich ernsthafter Typ, dem allerdings regelmäßig ein gewinnendes Lächeln über das Gesicht huscht. Wir plaudern. Es ist ja nicht unser erstes Gespräch. Wir haben schon mehrmals geredet, über Regietheater, über Rollen, in denen er sich nicht so wohl gefühlt hat, weil er sie anders gesehen hat und doch mit ihnen verschmolzen ist. Über den Widerstand, den er manchmal empfindet und bei dem man manchmal von außen das Gefühl hat, dass er ihn braucht und dass er ihn besser macht. Sein ausgesprochener Wunsch ist es, mit guten, interessanten Menschen zusammen zu arbeiten, mit denen er in die Komplexität einer Rolle, eines Charakters eintauchen kann. Und er möchte verschiedene Genres abdecken, nicht nur klassische Oper. „Ich bin, auch wenn du einen anderen Eindruck hast“, sagt er zu mir, „schon experimentierfreudig, ich bin risikofreudig. Ich habe einen eigenen Kopf und stelle mich manchmal Diskussionen, vor allem, wenn mir etwas nicht wahrhaftig oder glaubwürdig erscheint. Da kann ich auch sehr ehrlich sein. Ich kann relativ schlecht meine Gefühle hinter einer Fassade verstecken.“  

Singen ist für ihn für ein kommunikativer Akt.

Der am besten und schönsten gelingt, „wenn man in einer Vorstellung das Gefühl einer Übereinkunft mit dem Publikum hat und gemeinsam mit den Sängerkolleg*innen fliegt, alles vibriert und ineinandergreift wie bei einem Uhrwerk.“ Schon als Schüler in Demmin wusste er, dass er ein „abwechslungsreiches Leben“ führen wolle, mit vielen verschiedenen Menschen, verschiedenen Kulturen, verschiedenen Publika. So ging er nach dem Gesangsstudium an den Hochschulen in Dresden und Leipzig zielstrebig in die USA, wo er im Sommer 2008 sein Studium an der Yale School of Music beendete. Erste Gastierungen am DNT in Weimar und am Theater Hof folgten. In letzterem sang er eine Lieblingspartie: Alban Bergs Wozzeck. Es kamen inzwischen Häuser wie das Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, am Théâtre des Champs-Élysées Paris, die Oper Leipzig, die Opernfestspielen Miskolc in Ungarn oder dem Norfolk Chamber Music Festival in den USA hinzu, wo er die Titelpartie in Monteverdis Orfeo sang.

„Als guter Sänger braucht man 20% Talent und 80% Persönlichkeit.“

Doch ganz zu Beginn seiner Karriere half ihm vor allem das Glück. Eines der beiden Musikgymnasien des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern befand sich in seinem Heimatort. Er spielte in einer Bigband, sang Jazz und im Chor, spielte Klavier und bekam mit 16 Jahren Gesangsunterricht bei einer Lehrerin,  die ihn durchaus mit dem Satz prägte: „Als guter Sänger braucht man 20% Talent und 80% Persönlichkeit.“ Es folgten Soloauftritte und Preise bei Jugend Musiziert. Und als er sich dann entscheiden musste, „was mache ich mit meinem Leben, habe ich genau gespürt, dass ich genau das will: vor Leuten zu stehen und ihnen etwas sagen, etwas vortragen, sie berühren durch Gesang, durch den Text. Und diese Ruhe vor dem Konzert erleben, den Moment, wo alle still sind, die mir gleich zuhören werden.“ Ich: „Das klingt als würdest du kein Lampenfieber kennen“. Birger: „Damals war ich sehr aufgeregt, verkrampft“. Ja, und es habe ihn schon begleitet, der Erfolgsdruck, die Angst vor dem Auftritt. „Aber es gibt ja durchaus Techniken, die Angst zu akzeptieren, du gehst ja sowieso raus. Einfach durchatmen.“ Birger arbeitet an sich. „Ich suche immer einen Weg, mich weiterzuentwickeln.“ Und nicht nur stimmlich, indem er regelmäßig Gesangsunterricht nimmt bei verschiedenen Lehrer*innen.

„Es reicht nicht zur Gesangstechnikmaschine zu werden, sondern man muss sich ebenso um seine Psyche, um seine mentale Gesundheit kümmern.“ 

Vorbereitung, Selbstmotivation und Fleiß sind Stichworte für Birger. Und so hat er durchaus von der Coronapause profitiert, nachdem ihm der plötzliche Abbruch der Falstaff-Produktion im vergangenen Frühling wie ein Coitus interruptus vorkam: „Ich war vollkommen paralysiert, weil man in den Endproben ja wie im Rausch ist und auf die Premiere hin fiebert.“ Er habe die freie Zeit genutzt, „sich zu finden nach diesen letzten fünf Jahren, in denen es viele Auf und Abs gab.“ „Ich kam wirklich zu mir.“ Und seine Stimme klingt wirklich ausgeruht und ist größer geworden. Dramatischer wie es im Fachjargon heißt. Was ist überhaupt sein Stimmfach genau? Lyrischer Bariton mit dramatischen Qualitäten, auf diese Formel einigen wir uns, nachdem wir die Bezeichnung Kavalierbariton zu undefiniert und schmal finden. Die größte Frage in der geschenkten Zeit war die Frage nach der Zukunft, „wohin es mit meinem Beruf gehen soll?“ Jetzt steht sein Entschluss fest: Er möchte frei arbeiten. Doch die Ablösung von Bremen ist so einfach nicht. Vielleicht wird Birger doch bald wieder auf der Bremer Bühne stehen. Das hängt jetzt an einem Vorsingen an einem noch geheim gehaltenen Ort.

Wir wünschen ihm Glück – na klar, aber …

Jetzt erstmal kann man ihn in dem Video Was bleibt von Ariadne sehen, als Musiklehrer im Vorspiel von in Richard Strauss´ Oper Ariadne auf Naxos. Er findet es schon schade, dass nicht die ganze Oper abgefilmt wurde und das Gesangsensemble nicht vom Orchester, sondern nur von zwei Klavieren begleitet wird. Ich beruhige ihn, denn er ist zwar gespannt, aber konnte das Video bisher nicht sehen: „Es ist überhaupt kein Mitschnitt der Inszenierung, sondern ein halbstündiger, ziemlich munterer Einblick in die Probenarbeit. Es gibt viele Backstage-Bilder, Interviews der Beteiligten und durchaus auch ein paar schöne, kleine Szenen, an denen du, Birger, beteiligt bist.“