Abrüsten, bitte! – Die Oktober-Kolumne

Michael Börgerding über Bücher, Menschen und humanitäre Dammbrüche

Ich habe von einem guten Freund zum Geburtstag das Buch eines Autors geschenkt bekommen, von dem ich noch nie gehört hatte, aber dessen Leben so faszinierend ist, dass ich sehr gespannt bin. Jean Malaquais, 1908 als Wladimir Malacki in eine säkulare jüdische Familie in Warschau geboren, war Autor und Übersetzer, Kosmopolit und Marxist. Seit den 1920er Jahren in Frankreich lebend, schrieb er auf Französisch. Im Zweiten Weltkrieg geriet er, als polnischer Jude ohne französischen Pass dann doch in der französischen Armee gegen Nazi-Deutschland kämpfend, in Kriegsgefangenschaft, konnte später jedoch über Marseille in die USA fliehen. Planet ohne Visum heißt sein Roman über Marseille 1942. Die große Anna Seghers hat über diese Stadt in diesen Wochen und Monaten vor der endgültigen Besetzung der Freien Zone durch die Deutschen den bekannteren Roman geschrieben: Transit. Es gibt auch eine großartige Verfilmung dieses Romans von Christian Petzold. Eine Theaterfassung wäre ein Projekt für Armin Petras. Während ich ihm diese Zeilen als SMS schreibe, höre ich Radio-Nachrichten: Zwei Drittel aller Deutschen sagen, dass zu viele Asylbewerber aufgenommen werden, 80 Prozent fordern schärfere Grenzkontrollen. PLANET OHNE VISUM. Wie auch immer der Roman von Malaquais literarisch einzuschätzen ist: Er hat den besseren Titel. 

„Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“ Ich muss, glaube ich, nicht schreiben, von wem der Satz ist. Es ist nicht die einzige verbale Aufrüstung in der Migrationsdebatte. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai hat die Grünen ein „Sicherheitsrisiko für das Land“ genannt. Und ein früherer Bundespräsident wie Joachim Gauck sagt, man müsse jetzt „Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch erscheinen, weil sie inhuman klingen“. Dammbrüche noch und noch. Die Auslassungen des Bremer CDU-Vorsitzenden Meyer-Heder zur AfD werden vermutlich nicht die letzten sein.

Doch zuerst eine gute Nachricht. Ich zumindest empfinde sie als gute Nachricht. Der Migrationsforscher Gerald Knaus hat sie so zusammengefasst: „In Deutschland wurde einer Million Ukrainern, die nach Russlands Angriff flohen, Schutz gewährt. Weiters erhielten 2022 etwa 100.000 Asylantragsteller, darunter mehr als 75.000 aus Syrien und Afghanistan, schon in erster Instanz Schutz. Wieder anderen wurde in zweiter Instanz von Gerichten Schutz gewährt, und in 30.000 Fällen, die meisten von ihnen Afghanen, wurde 2022 ein Abschiebungsverbot festgestellt.“ Niemand von ihnen kann mehr abgeschoben werden, der Rechtsstaat funktioniert, das Asylrecht hat noch Bestand und das ist eine gute Nachricht. 

Wer in Deutschland heute von Obergrenzen oder von einer „Abschiebungsoffensive“ spricht, suggeriere, so Knaus in der Süddeutschen, „dass in einer Situation, in der neun von zehn aufgenommenen Flüchtlingen aus der Ukraine kommen, mehr Abschiebungen die Kommunen spürbar entlasten würden, weckt Erwartungen, die unerfüllbar sind. Und unerfüllbare Versprechen helfen nur jenen, die ohnehin gegen angeblich inkompetente Eliten wettern.“

„Der Elefant im Raum sind die mehr als vier Millionen Flüchtlinge, die Europa aus der Ukraine aufgenommen hat“, schreibt Daniel Bax in der taz.  Sie müssen zwar kein Asylverfahren durchlaufen, doch auch sie beanspruchen Behörden und Sozialsysteme. Aber – schreibt Bax weiter: „Die Debatte konzentriert sich aber ausschließlich auf die Menschen, die aus anderen Ländern nach Europa fliehen. Für diese wird die Europäische Union das Asylrecht verschärfen. Dabei fliehen auch aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, der Türkei und Iran viele Menschen vor Krieg und Verfolgung – aus diesen fünf Ländern stammen die meisten Menschen, die derzeit in Deutschland Asyl suchen.“

Noch einmal Gerald Knaus: „Was also bedeutet das Versprechen einer ‚Abschiebungsoffensive‘ konkret? Dass in diesem Jahr 350 statt 170 Menschen nach Gambia abgeschoben werden? Dass die Zahl der Rückführungen nach Somalia von 13 (2021) auf 130 (2023) steigen würde? Dass 2023 nicht 52 (wie 2021), sondern 152 Menschen in den Irak abgeschoben würden?“ Warum wissen das Menschen wie der bayerische Ministerpräsident nicht? Wollen sie es nicht wissen oder haben sie andere „alternative“ Wahrheiten und Fakten?

 Mein Freund Moritz Rinke hat in seiner Wochenendkolumne im Weser-Kurier dazu folgendes geschrieben: „Warum bewegt sich eine Gesellschaft immer aus der Mitte nach rechts? Gauck war früher Pfarrer, die Familie des FDP-Generalsekretärs kommt aus dem Iran, er hat die Chance bekommen, hier aufzuwachsen. Dass selbst solche Menschen nun eine Sprache sprechen (der eine bedacht, der andere aggressiv), die aber gleichsam gar nicht mehr zu ihren Überzeugungen und Herkünften passt – das könnte Folgen haben.“

Der Bremer David Safier hat einen Roman über seine Eltern geschrieben. Sein Vater war ein Österreicher jüdischer Herkunft und entkam nur durch ein Wunder der Deportation durch die Nazis nach Israel. In seinem neuen Buch erzählt Safier nun die Lebensgeschichte seines Vaters und seiner Mutter. Wie diese beiden Menschen zueinander gefunden haben, ist so unwahrscheinlich, dass man sie Safier nicht glauben würde, hätte er sie erfunden. Das Buch Solange wir leben ist eine zärtlich geschriebene Liebeserklärung an seinen jüdischen Vater und seine deutsche Mutter aus Bremen-Walle – und ein wunderbares Vademecum in diesen Zeiten der verbalen Aufrüstungen gegen Menschen, die bei uns Schutz suchen. Literatur hilft, das Theater kann helfen gegen Populismus und Überbietungsrhetorik. Ich freue mich sehr, dass John von Düffel diesen Roman für uns adaptieren wird und Alize Zandwijk ihn im Frühjahr 2025 inszeniert. Allerdings: Wer weiß, welche verbalen und humanitäre Dammbrüche wir bis dahin noch erleben werden.