Als wenn sie unsichtbar wären ...
In „Eski Ustalar – Alte Meister“ erzählen gut 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei türkische Senioren vom Alltag im Alter. Das Projekt des Kulturzentrum FAUST Hannover ist im April zu Gast im Brauhaus. Wir dürfen einen Auszug aus einem der Texte veröffentlichen.
Ich habe den, der das aufgeschrieben hat, gefragt, warum er das alles wissen will. Er sagte, wir leben in einem Stadtteil und er weiß nichts von mir und von anderen alten türkischen Menschen, als wenn sie unsichtbar wären. Obwohl wir dazugehören. Also habe ich ihm meine Geschichte erzählt: 1972 bin ich nach Deutschland gekommen, aus Malatya. Es gab noch in Istanbul eine gründliche medizinische Untersuchung, so richtig, so mit Zähne zählen und Finger in den Arsch, gleich noch einmal dasselbe in Deutschland. Meine erste Arbeitsstelle war in Hannover Elektro-Mayer. 1972 bis 1976 habe ich da gearbeitet. Bald ist das fünfzig Jahre her. Ich habe immer eine Stunde mehr gearbeitet und immer weniger Pause gemacht und jede Überstunde genommen. Deutsch lernen? Wieso? Ich wollte arbeiten und Geld verdienen! Aber es ist nicht einfach, wenn man die Sprache nicht gut spricht. Die schwere Arbeit, dann kleine Kinder, ich habe es einfach nicht geschafft. Wer in einem fremden Land arbeiten will, sollte als erstes die Sprache lernen! Heute weiß man das besser.
Ein Arzt hat mir mal was erklärt. Ich habe es nicht verstanden. Ich habe mich aber auch nicht getraut, das zu sagen. Immerhin lebe ich noch.
Später bin ich dann doch zu Telefunken gegangen, Fernsehgeräte am Fließband montieren. Bei Telefunken arbeiteten damals 8000 Menschen! Aber mein Traum war VW! Alle redeten immer von VW! Ab 1978 arbeitete ich dann dort, dreißig Jahre! Meistens am Fließband, Innenverkleidungen in die Autos montieren, verschrauben und verkleben. Später habe ich dann Kabelstränge sortiert, montiert, verlegt und verbunden. Wir waren eine Gruppe, halfen einander und wechselten uns ab. Das war wie eine Familie. Wir trafen uns auch noch als Rentner. Letzten Weihnachten waren wir nur noch fünf. Es sterben ja alle so früh! Die Zigaretten, die schwere Arbeit, vielleicht ja auch das Leben in einem fremden Land. Meine Söhne – beide arbeiten auch bei VW, Taner als Messtechniker, Malik als technischer Zeichner, - sprechen Deutsch und Türkisch, meine Enkel nur noch Deutsch und wenig Türkisch, ich Türkisch und weniger Deutsch.
Ich glaube, ich bin ein guter Opa.
Meine Enkel freuen sich auf mich und ich kann den jungen Familien gut helfen beim Aufpassen. Es ist eine Selbstverständlichkeit und manchmal auch Pflicht, aber eine schöne. Auf mein Leben im Alter habe ich mich gut vorbereitet. Ein Haus kaufen, zwei Lebensversicherungen für die Rente, sich im Urlaub immer gut ausruhen, nicht rauchen. Wichtig ist auch Sport. Als ich noch jünger war, war ich Fußballspieler beim TuS Ricklingen, später dann auch Trainer ein paar Jahre. Ich wohne mit meiner Frau Tülin in Linden in einem Haus mit mehreren Wohnungen. Ja, alles Eigentumswohnungen. Neben mir wohnen zwei Brüder von mir, weiter oben im 3. Stock zwei Schwestern, dazwischen meine alte Mutter. Alle kümmern sich um sie. Und meine Schwestern haben schon auf mich aufgepasst als ich Kind war und wohnen jetzt also über mir.
Man sagt, wer sich hier was kauft, wird auch hier begraben.
Ich habe nie daran gedacht, in die Türkei zurück zu gehen. Kein einziges Mal. Mir geht es gut hier, trotz Herzproblemen und Alltagsärger. Man passt auf sein Haus auf und auf seinen Garten und kümmert sich um die Enkel. Ich habe keine Angst vor dem Alter. Man kann dem Tod schließlich nicht davonlaufen. Falls ich eines Tages gepflegt werden müsste, könnte ich nicht zu meinen Kindern. Aber das erwarte ich auch gar nicht von ihnen. Sie werden ihre eigenen Probleme haben. Früher war das vielleicht noch üblich in der Türkei, dass die Großeltern noch in der Familie aufgenommen wurden und dort gepflegt wurden. Aber heute heiraten die Leute und gründen ihren eigenen Haushalt. Wenn ich mal sterbe, soll meine Asche in den Wind gestreut werden. Aber das darf man als Alevit nicht, deswegen denke ich eher an den Friedhof Altenbekener Damm. Da ist es schön.
(erzählt von Cevdet)
„Eski Ustalar – Alte Meister“ wird gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, Soziokultur Niedersachsen, Stiftung Niedersachsen, Landeshauptstadt Hannover Kulturbüro
veröffentlicht am 14. April 2022