Anke Stelling: Ausgesprochen, was ist.

Dramaturgin Simone Sterr im Gespräch mit der Buchpreisträgerin, deren Roman Schäfchen im Trockenen in einer Bühnenfassung am 29. August 2020 Premiere feierte. Ab dem 16. Juli 2021 ist die Inszenierung wieder da!

Fast hätte es geklappt. Schon einmal. Anfang der 2000 Jahre. Da wollte ich Anke Stelling gewinnen, ein Stadtprojekt zu schreiben für ein kleines Theater auf der schwäbischen Alb. Ihre ersten beiden Romane Gisela und Nimm mich mit waren als Gemeinschaftsprojekt mit Robby Dannenberg erschienen, ihr Studium literarisches Schreiben war kurz vor abgeschlossen, ihr erster eigener Erzählband Glückliche Fügung kurz vorm Erscheinen. Geschichten von Frauen, allesamt in der Schwebe, im Ungewissen, kurz vor oder kurz nach etwas, nicht genau wissend wohin das Leben läuft. Wir sind ein paar Runden durch die schwäbische Provinz gelaufen, mehr wurde nicht daraus. Leider. Bei Anke Stelling lief es auf eine Karriere als Schriftstellerin hinaus. Ich habe mich immer gefreut einen Text von ihr zu lesen, ein neues Buch veröffentlicht zu sehen, einmal sogar ein Kinderstück Selber Schuld – Katapult. 2015 dann Bodentiefe Fenster. Ich war immer noch im Schwabenland. In Tübingen. Und erkannte die hippen Ökos, die aus den Idealen ihrer 68er Mütter eine Wohlstandsmentalität aus Holzlaufrädern, Fahrradanhängern und veganen Keksen gezimmert hatten, an jeder Ecke. Auch wenn der Roman in Berlin Kreuzberg spielt.
Schäfchen im Trockenen begeisterte die Bremer Dramaturgie sofort. Die Mischung aus Melancholie, Wut und feinem Humor, mit der Anke Stelling den Traum von den gleichen Chancen für alle als Lüge entlarvt und die Wahrheiten über die Klassengesellschaft gnadenlos ausspricht.
Fast hätte es geklappt. Mit einer Premiere am 17. April. Und einem Gespräch mit der Autorin ein paar Tage später. Was tun? Podcast, Stream, Videokonferenz? Wir haben uns für das geschriebene Wort entschieden.

Simone Sterr: „Eine Vita anhand der Badezimmer“, schreibst du in der Biographie auf deiner Homepage. Und in deinen Texten spielen Baumaterialen eine entscheidende Rolle. Küchenböden, Fensterfronten, Hausfassaden werden zum Symbol für Zugehörigkeit, Status oder soziale Ausgrenzung. Ist das die schwäbische Sozialisation, die Dinge vom Hausbau aus zu denken?  

Anke Stelling: Ja, das kann sein, als Schwäbin ist mir das Motto „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ natürlich ein Begriff. Doch darüber wurde gespottet, das war ganz gewiss nichts Erstrebenswertes. Der Traum, mit dem ich aufgewachsen bin, war, dieses piefig-angepasste Lebensmotto zu überwinden und stattdessen aus dem Vollen zu schöpfen – wenn nicht materiell, dann zumindest geistig.

Wohnen heißt ja nicht nur Zusammenleben. Es kann heißen, Utopien zu teilen, Lebensentwürfe, Ideale. Zumindest ist das der Anspruch in der Baugemeinschaft K23, die du in deinem Roman beschreibst. Als Leserin war ich mir nie sicher: Ist es Sehnsucht oder Bitterkeit, mit der die Hauptfigur auf dieses Projekt schaut. Wie schaust du darauf?

Anke Stelling: Mit beidem. „Es gibt keine Eindeutigkeit“, sagt Resi gleich zu Anfang des Romans zu ihrer Tochter und gibt zu, dass sie das selbst leider auch immer wieder vergisst. Weil die Sehnsucht nach Eindeutigkeit so groß ist.
Eindeutigkeit verspricht Sicherheit, aber es gibt keine, die Welt ist kontingent. Und das trifft auch auf die eigenen Gefühle zu. Sehnsucht und Ablehnung, Liebe und Hass, Erkennen und Verleugnen wechseln sich ab oder sind gar gleichzeitig vorhanden. Wenn Resi die K23 und ihre alten Freunde einfach nur doof finden könnte, hätte sie’s leichter. Aber sie sehnt sich nach ihnen, egal, wie unsympathisch sie ihr gleichzeitig sind. Sie ist mit ihnen verbunden, sie kann sie nicht loslassen. Und festhalten kann sie sie aber auch nicht.

Steckt in Resis Blick deine Analyse der Gesellschaft, die sich daran festmacht, wer sich welche Wohnform und welchen Wohnort erlauben kann? 

Anke Stelling: Mich interessiert Gruppendynamik. Also Fragen von Ein- und Ausschluss, Abschottung und Durchmischung verschiedener Milieus und Klassen. Die sich wiederum häufig an Äußerlichkeiten festmachen oder zumindest daran entlang erzählen lassen. Das kapiert Resi allerdings erst nach und nach, und das hat bei mir auch eine Weile gedauert: dass Statussymbole tatsächlich auch über Status entscheiden und nicht nur umgekehrt.

Eine der ersten Entlastungsmaßnahmen in der Corona-Krise war die Möglichkeit Mieten zu stunden. Nur sehr wenige Privathaushalte machen davon Gebrauch. Alles also nicht so schlimm mit den Innenstädten, die sich keiner mehr leisten kann?

Anke Stelling: Das berührt dann die Fragen von Schuld und Scham, die mich auch sehr interessieren. Niemand mag zugeben, sich verrechnet oder gar verhoben zu haben, sich was nicht mehr leisten zu können, aus der Mitte rauszufallen. Ich kenne sehr viele Leute, die weit mehr als ein Drittel ihres Einkommens für die Miete ausgeben. Und meinen, das sei halt so, das sei schon okay. Vom Erkennen von Missständen bis zu deren Abschaffung ist’s ein weiter Weg. Und nicht jede*r, eigentlich kaum jemand hat den Mut und die Kraft, den Klassenkampf wirklich auszufechten.

Kannst du Menschen verstehen, die sich die Familiengründung noch mal richtig gut überlegen, nach dem sie dein Buch gelesen haben?

Anke Stelling: Auf jeden Fall. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine Lüge. Wer meint, diese Vereinbarkeit hinzukriegen, lagert in Wahrheit aus. Kauft sich frei, belügt sich selbst – leichter – und vielleicht auch ehrlicher – ist’s, sich zu entscheiden.

Resi ist Mutter von vier Kindern, sie schreibt, ihr Mann ist freier Künstler. Familie ist Belastung, Überforderung, Armutsfalle, Freiheitsverlust. Das pure Glück funkelt ganz selten zwischen den Zeilen. Trotzdem lese ich den Text auch als Liebeserklärung einer Mutter an ihre Tochter, einer Frau an ihren Beruf, einer Freundin an ihre Freunde. Habe ich da was falsch verstanden?

Anke Stelling: Nein, genau, das ist für mich kein Widerspruch. Dass es schwer, dass es letztlich nicht zu schaffen ist, heißt nicht, dass es nicht auch toll ist, schön, erstrebenswert. Da ist sie wieder, die Gleichzeitigkeit!

Frauen und Beruf. Schon unsere Mütter haben versucht, das zu verbinden und wir haben immer noch daran zu schaffen. Warum ist es immer noch irgendwie exotisch einen erfüllenden Beruf auszuüben und gleichzeitig Kinder zu haben? Es sollte doch eine Selbstverständlichkeit sein. Sind unsere Träume zu hochpreisig, die Ansprüche zu utopisch, wir selbst zu unentspannt oder das Leben einfach zu hart?

Anke Stelling: Wir leben im Kapitalismus. Alles ist auf Wertschöpfung und Umsatz ausgerichtet. Kunst, Kinder und Care sind widerspenstig in der Einpreisung, legen praktisch permanent die Fehler dieses Systems offen. Das kann man verdrängen – genau wie das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, Sinnhaftigkeit und Freiheit – aber wer das nicht kann, muss in diesem System zwangsläufig leiden. Ich finde nicht, dass ‚Entspannung‘ der Weg ist. Das klingt für mich nach Abstumpfung, nach Sichabfinden, nach Augen zu und durch.

Wenn ich mit Frauen über dein Buch spreche spüre ich Dankbarkeit dafür, dass mal ganz kitschfrei und schamlos über die hässliche Seite von Familie gesprochen wird.  Das wirkt auf viele befreiend. Warum, denkst du, ist das so?

Anke Stelling: Wir merken doch die meiste Zeit über gar nicht, wie sehr wir einer Propaganda, also der großen Erzählung, die das System stützt und erhält, unterworfen sind. Resi fragt sich an mehreren Stellen des Romans, wer’s eigentlich genau ist, der uns diese Bilder von Familie, Glück und weiblicher Erfüllung in die Gehirne gepflanzt hat. Manufactum? Lasse Hallström? Die Gala-Redaktion? Wir reproduzieren diese Bilder und wissen zugleich, dass sie schief sind. Da ist es schön, wenn man mitbekommt, dass es anderen auch so geht, dass sie das auch sehen.

Hast du ein Ideal von Familie? Oder anders, was traust du in einer Welt der komplexen Unsicherheiten dem Familienverband zu?

Anke Stelling: Ich bin gegen ererbte Privilegien, finde Vetternwirtschaft unangenehm und halte erzwungene Liebe nicht für echt. Da bleibt dann nicht mehr viel übrig. Zugleich bin ich, was Wahlverwandtschaften und Interessenverbände betrifft, auch reichlich ernüchtert. Nein, wenn’s um Idealismus geht, hab ich derzeit nicht viel zu bieten ...

Aussprechen, was ist. Das ist so eine Lösung, die man auf viele deiner Texte anwenden kann. Ist unsere Generation belogen worden und muss jetzt die unangenehmen Wahrheiten an sich spüren und für andere in die Welt schreien?

Anke Stelling: Da sind wir wieder beim Idealismus. Wer hoch fliegt, fällt tiefer, landet vielleicht unsanft. Ich fand’s wirklich sehr schön, mit idealistischen Erwachsenen aufzuwachsen, mit dem festen Glauben an eine bessere Welt. Vielleicht hab ich’s ein bisschen zu ernst genommen und bin deshalb umso enttäuschter und verbitterter. Wobei ‚Bitterkeit‘ auch wieder so ein Bild ist: ein Negativbild für ältere Frauen. Lasst mich gefälligst in Ruhe verbittern, ich hab’s satt, fröhlich-naiv und genießbar zu sein.

Wenn man Rezensionen über deine Bücher liest kommt die Vokabel „analytisch“  häufig vor. Ich empfinde deine Texte ja auch als melancholisch, traurig, poetisch. Politisch sind sie natürlich scharf und hart. Welche Beschreibung gefällt dir?

Anke Stelling: Mir gefällt, wenn sie alles gleichzeitig sein dürfen. Dann kommen sie der Welt, wie ich sie wahrnehme, am nächsten.

Du beschreibst, dass es unter dem Deckmantel der Aufstiegs- und Bildungschancen für alle eine ziemlich undurchlässige Klassengesellschaft gibt. Verschärft sich diese Situation gerade, macht das Virus diese Fragen virulenter oder rücken jetzt alle schön nah zusammen. Solidarität statt Klassenkampf, um die ganz alten Vokabeln aus der Schublade zu kramen. Spekulier doch mal ...

Anke Stelling: So, wie ich’s erlebe, ist es mit der Solidarität nicht sehr weit her. Was sich deutlicher zeigt, ist die Abhängigkeit, diese eine wunde Welt, in der wir leben. Aber wie man mit dieser Abhängigkeit und Verwundung umgeht, dafür gibt’s ja schon seit jeher unterschiedliche Konzepte. Grenzen dichtmachen, teilen und herrschen, anderen die Schuld zuschieben, die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen – das scheinen mir leider auch jetzt wieder die bevorzugten Methoden der Krisenbewältigung zu sein. Ich versteh’s nicht. Ich find’s kurzsichtig, unverantwortlich und dumm.

Ist die Angst eine ständige Begleiterin für eine freischaffende Schriftstellerin? Wenn ja, hast du Strategien damit umzugehen?

Anke Stelling: Ja, ich habe große Angst. Aber um der entgegenzuwirken, bin ich Schriftstellerin. Ich würd’s ohne Kunst nicht aushalten. Ich muss mir was erzählen und erzählen lassen, ich brauche die Momente der Erkenntnis, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Dass ich dadurch vielleicht relativ – ökonomisch betrachtet – wieder unsicherer bin, ist’s mir wert. Ich bin als weiße Westeuropäerin immer noch verdammt privilegiert, auch ohne Eigentum und Festanstellung.

Mit kurz vor fünfzig hast du mit dem Leipziger Buchpreis einen sehr renommierten Buchpreis bekommen. Verdient. Da sind sich die Kritiker*innen einig. Was hast du gedacht, als dir die Entscheidung mitgeteilt wurde: „Endlich!“ „ Warum gerade ich?“ „10 Jahr früher, wär´s mir lieber gewesen.“ „ Wadenbeißer werden mit Preisen ruhiggestellt.“ „  Was, wenn alle Kinder jetzt ein neues Tablet wollen?“ „ Wohin fahren wir in Urlaub?“

Anke Stelling: Ja genau, alles das. Ich war wieder mal erstaunt über die Gleichzeitigkeit der widersprüchlichsten Gefühle und Gedanken. Ich dachte ‚Hä?‘ und ‚Ja, klar!‘ im selben Moment. Ich weiß, dass so ein Preis nichts und zugleich sehr viel bedeutet. Ich hab mehr Geld, als ich je hatte, aber verglichen mit dem, was meine Nachbarn so haben, bleibt’s ein Witz. Ich hab mir einen neuen Rechner gekauft, und der Typ im Laden guckt den alten an und wundert sich, wie ein Gerät derart lange durchhalten konnte. Die Kinder sind längst zur Bescheidenheit erzogen, für Urlaub hatte ich vor lauter Lesungen und Schreibaufträgen keine Zeit, und so eine Aufmerksamkeit ist auch echt unheimlich. Und sehr-sehr schön! Das mit dem Ruhigstellen hab ich auch überlegt. Will ich angekommen sein im Establishment? Ist meine Heimat nicht die Off-Szene? Aber nein, das ist das Gute, wenn’s einen später als früher ereilt: Man ist schon, wer man ist. Und falls ich’s doch vergessen sollte, kann ich’s in früheren Texten von mir nachlesen.

Die Leipziger Buchmesse 2020 ist bereits ausgefallen. Dein neuestes Buch Freddie und die Bändigung des Bösen wäre dort vorgestellt worden. Du hast im Rahmen der Coronakrise Lesungen, Auftritte, Tantiemen verloren. Was bedeutet die Situation für dich und deine Kolleg*innen?

Anke Stelling: Um Freddie mach ich mir nicht so viele Sorgen. Kinderbücher sind nicht ganz so saisonabhängig – man könnte natürlich auch sagen: ohnehin bei noch viel weniger Menschen auf dem Schirm. Andere Kolleg*innen trifft’s härter; ich hatte ja jetzt schon sehr viel Aufmerksamkeit, siehe oben. Wer dieses Frühjahr nach fünf Jahren Arbeit am Schreibtisch endlich rauskommt, vielleicht auch gerade erst debütiert … Aber das Ringen ums Gelesen- und Verkauftwerden ist ja auch sonst schon enorm. Und das Vom-Schreiben-leben-können schwierig. 

Scham ist ein großes Thema bei dir. Schämst du dich über Geld zu sprechen? Sowohl über das, was man hat, als auch über das, was man nicht hat ?

Anke Stelling: Ich spreche gern über Geld, eben weil’s keines gibt, für das ich mich schämen muss. Ich kann damit prahlen, mit wie wenig ich auskomme. Ich hab nie das Gefühl, eigentlich mehr verdient zu haben. Ich bin komplett gehirngewaschen in der Hinsicht, dass das, was man gern tut, ja wohl keine Arbeit ist und deshalb auch nicht bezahlt werden muss. Ich bin sehr schlecht im Verhandeln. Ich glaube, ich hab das mit dem Geld, mit der Arbeit, mit dem Dienst an sich selbst und an andern, mit der Verteilung und Wertschöpfung und dem Tauschen und Vermehren, dem Scheffeln und Zur-Seite-schaffen, Ausgeben und Angeben immer noch nicht so recht kapiert. Ich muss erst noch viel genauer drüber nachdenken.