Auf der Bühne des Großen Hauses: ein Anatomisches Theater

In Padua wie in Bremen – Brigitte Heusinger war vor Ort

Unlängst war ich da, im Anatomischen Theater in Padua, dem ältesten seiner Art. 1594 gebaut im Palazzo del Bò, wo die freisinnige Universität zu Padua auch heute noch residiert. Gegründet wurde sie von wissbegierigen Studenten, die ihre Professoren direkt entlohnten. Bezeichnend ist, dass schon damals Wert auf die Ausgewogenheit einheimischer und aus fremden Ländern stammender Studenten Wert gelegt wurde und Galilei hier unzensiert lehren durfte. Die Studenten zimmerten ihm eine hölzerne Kanzel, damit er wegen des Andranges bei seinen Vorlesungen weithin gesehen werden konnte. Dieses Zeugnis seiner Wirkungsmacht lässt sich heute noch besichtigen, aber das eigentliche Highlight im Palazzo Bò ist das Anatomische Theater, der Hörsaal oder besser die Schaubühne, in der öffentlich Obduktionen vorgenommen wurden und der in seiner Architektur das antike Amphitheater zum Vorbild hatte.

Die Innenschau der Renaissancekünstler bezog sich nicht nur auf den Geist, sondern ebenso auf den Körper.

Das Menschenbild der Renaissance gebar das Individuum. Künstler und Philosophen interessierten sich für das Innere der Menschen. Der Mensch auf den Gemälden stand weniger als austauschbarer Repräsentant einer gesellschaftlichen Klasse in einer gottgefügten Ordnung, sondern hatte vielmehr ein eigenes Gepräge, eine Seele, einen Willen. Der individuelle Charakter wurde freigelegt und mochte er noch so rätselhaft sein, wie bei da Vincis Mona Lisa oder der Dame mit dem Hermelin. Doch die Innenschau der Renaissancekünstler*innen bezog sich nicht nur auf den Geist, sondern ebenso auf den Körper.

Leichen waren sakrosankt und nur über wohlwollende, aufgeklärte Mittelsmänner verfügbar.

Für Leonardo da Vinci wie für Michelangelo Buonarroti war es nicht einfach, anatomische Studien zu betreiben. Leichen waren sakrosankt und nur über wohlwollende, aufgeklärte Mittelsmänner verfügbar, um am toten Objekt zu studieren, wie Muskeln, Sehnen, Organe funktionieren und entweder nackt oder unter Kleidern wahrheitsgetreu nachzubilden waren. Eine Faszination, die in unserer Zeit zum Massenphänomen geworden ist: 6000 Menschen standen 2009 auf der Warteliste als Präparationsobjekte für Gunter von Hagens Körperwelten – die saubere, unblutige Form des anatomischen Theaters hat sein Publikum gefunden.

Das „Selberschauen“ wurde durch „gelebte Praxis“ legalisiert. 

Doch in der Renaissance war die Beschaffung von Anschauungsmaterial ein Problem, und es musste auf Selbstmörder und hingerichtete Personen zurückgegriffen werden. So auch im teatro anatomico in Padua. Gebaut in einem Klima der geistigen Freiheit löste es die bestehenden provisorischen Schaustätten der Autopsie ab.  Das „Selberschauen“, das bis dato im Verborgenen, im Freien und unter improvisierten Bedingungen stattgefunden hatte, wurde durch „gelebte Praxis“ legalisiert. 

Der dozierende Anatom, der in einer Mischung aus Wissenschaftler und Showmaster die Sektion zelebriert.

Eng ist es hier. Ich stehe bei meinem Besuch in einer geführten Gruppe ganz unten, also dem Ort, an dem die Leichen vorbereitet wurden, bevor sie magisch auf einem Tisch in die Arena empor gehoben wurden. Über mir stapeln sich elliptisch geformte Ränge, sechs an der Zahl. Die Sitzreihen liegen steil ansteigend übereinander. Es gibt wenige Zugänge, Einlass wie Auslass müssen gedauert haben und recht chaotisch gewesen sein. Schließlich sollten hier 500 Menschen ihren Platz gefunden und freie Sicht auf den Ort gehabt haben, an dem der Demonstrationstisch gestanden hat, auf dem die Leiche lag. Daneben im engen Rondell war wenig Raum für den dozierenden Anatom, der in einer Mischung aus Wissenschaftler und Showmaster die Sektion unter Mitwirkung mit Gehilfen zelebrierte. Die Zeit für den Beginn wie das Ende wurden festgelegt, damit sichergestellt war, dass der Verwesungszustand der Leiche die ästhetischen Gefühle des Publikums nicht über Gebühr strapazierte. Die Dramaturgie der Inszenierung hing also vom Zustand der toten Körpers ab. 

Es wurden Eintrittskarten verkauft für dieses Erlebnis, das es auch zu überstehen galt.

Auch in allen anderen aus dem Boden schießenden Anatomischen Theatern ging es nicht nur um die Bildung und Einweisung von Medizinstudenten. Es wurden Eintrittskarten verkauft für dieses Erlebnis, das es auch zu überstehen galt. Eine Art intellektueller Mutprobe, wenn man so will: Die Beleuchtung bestand aus Fackeln, Fenster gab es keine und die Konstruktion aus Holz mit vielen Zargen konnte bestenfalls für eine minimale Luftzirkulation gesorgt haben. Manch einer wird kollabiert sein, aber ohnmächtig umzufallen war schlechterdings unmöglich, stand man doch fest eingeklemmt in den sehr schmalen Reihen zwischen Vorder-und Hintermann und den seitlichen Nachbarn.

Jil Bertermann hat sich das Anatomische Theater zum Vorbild genommen.

Die Bühnenbildnerin Jil Bertermann hat sich das Anatomische Theater zum Vorbild genommen und für die Kammeroper Jakob Lenz einen modernen Nachbau mitten auf die Bühne des Großen Hauses gestellt. Keine Angst: Es wird deutlich weniger eng und luftiger als in Padua sein, auch die Gefahr, in Ohnmacht zu fallen, ist weitaus geringer, wird hier doch kein Körper, sondern eine Seele seziert. Es ist die Seele des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz, der in die Vogesen zu dem Pfarrer Oberlin flieht, um seinen Wahnvorstellungen Herr zu werden. Büchner schrieb 1836 die berühmte Erzählung und der wohl erfolgreichste zeitgenössische Komponist Wolfgang Rihm vertonte sie 1977/78.

Sie sitzen also in einem Theater, das in einem Theater steht.

Sie, das Publikum, sitzen also in einem Theater, das in einem Theater steht. Dieses Theater fasst knapp 290 Personen, die in ebenfalls sechs übereinander angeordneten Reihen stehen oder sitzen können. Es ist ein kurzer Abend, er dauert 70 Minuten. Man kann sich entscheiden, das Geschehen wie in der Originalsituation stehend zu verfolgen, hat aber auch die Möglichkeit, sich zwischendurch zu setzen oder abzustützen, auch wenn die Sitzflächen schmal und weniger bequem als ein Theatersessel sein werden. Sie werden – wie in Padua – zu Ihren Plätzen über Treppen ansteigen müssen. Sollte Ihnen das schwer fallen, wählen Sie einen Platz in der oberen Reihe, so merkwürdig es klingt: Sie müssen nur eine Treppe rauf und vermeiden den Abstieg zu den unteren Reihen. Es gibt allerdings (wenige) ebenerdige Ausnahme-Plätze, die für Menschen, die Schwierigkeiten mit Treppensteigen haben, reserviert sind. Rollstuhlplätze sind ebenfalls vorhanden. Bitte erwähnen Sie diese Umstände bei der Kartenbestellung, damit wir gut für Sie sorgen können. Und scheuen Sie nicht, sich am Abend an das Abendpersonal zu wenden. Es ist gerne für Sie da.

Übrigens …

Übrigens weiß Wikipedia Folgendes zu berichten: Bremen (1685), Johann Friedrich von Cappeln (1646–1714) ließ als Professor der medizinischen Fakultät am ‚Gymnasium illustre‘ eine sogenannte ‚Anatomiekammer‘ errichten, die am 2. Mai 1685 mit einer Zergliederung eröffnet wurde.“
Beim Nachgoogeln lässt sich herausfinden, dass dieses „Gymnasium illustre“ in der Neustadt lokalisiert war. Jetzt jedenfalls steht es auf der Bühne des Theater am Goetheplatz:

Nur elf Mal, bis zum 16. Mai 2020, und das für nur 290 Zuschauer*innen pro Aufführung. 

P.S.: Es wird Ihnen unangenehm aufgefallen sein: das Fehlen einiger weiblicher Formen. Aber unter den Renaissance-Malern, Studenten, Anatomen gab es eben nahezu keine Frauen – leider.