Aufbruch!
Seit einigen Jahren beschäftigen sich im Rahmen des 360°-Programms Theater im deutschsprachigen Raum verstärkt mit Diversität. Zum Auftakt der Online-Tagung „Aufbrechen! Ran an die Strukturen“ hat unsere 360°-Agentin Ferdaouss Adda ein Gespräch mit Anna Zosik, die das Programm bei der Kulturstiftung des Bundes begleitet, geführt.
Ferdaouss Adda: Frau Zosik, das 360°-Programm läuft jetzt seit drei Jahren. Wie steht es um die diversitätsorientierten Öffnungsprozesse in Kulturinstitutionen?
Anna Zosik: Ich habe den Eindruck, dass viele Institutionen erst durch die Teilnahme an 360° realisiert haben, wie umfassend, tiefgreifend und langfristig ein Diversifizierungsprozess ist. Sowohl in Bezug auf das Verstehen dieses Prozesses als auch bei der Umsetzung von zahlreichen konkreten Maßnahmen ist in den vergangenen drei Jahren viel passiert. Gleichzeitig ist noch einiges zu tun, um eine strukturelle Verankerung des Themas in den Häusern zu erreichen.
Ende November 2021 hat das 360°-Programm die digitale Tagung „Ungeduld – Auf dem Weg zu mehr Diversität in Kulturinstitutionen“ ausgerichtet. Der Titel spiegelt eine gesellschaftliche Dringlichkeit wider und lässt darauf zurückschließen, dass die Prozesse zäh/recht langsam laufen.
Anna Zosik: Transformationsprozesse brauchen Zeit. Darauf muss man sich einstellen und Geduld mitbringen: Gewohnheiten, Denk- und Handlungsmuster zu verändern, Menschen von der Veränderung zu überzeugen, sie im besten Fall dafür zu begeistern, Verständnis für die Komplexität zu schaffen, Ängste abzubauen, Wissen zu vermitteln – all das dauert. Andererseits wollen alle vorwärtskommen und Ergebnisse der eigenen Arbeit sehen, andernfalls drohen Frustrationen und im schlimmsten Fall Resignation und Abwendung. Das wäre für die Kultureinrichtungen und letztlich für die gesamte Gesellschaft eine fatale Entwicklung. Deswegen müssen wir ungeduldig bleiben.
Können Sie Unterschiede in den Prozessen feststellen? Z. B. in der Herangehensweise und Umsetzung? Und gibt es Gemeinsamkeiten (auch spartenspezifisch)?
Anna Zosik: Jede Institution ist anders. Sie unterscheiden sich in Größe, dem lokalen politischen und gesellschaftlichen Umfeld, dem vorhandenen Wissen über und der Offenheit für das Thema sowie in der jeweiligen institutionellen Arbeitskultur. Dementsprechend muss jede Institution ihre eigene Strategie finden. Gleichzeitig erkennen wir bei der Evaluation des Programms teilweise spartenspezifische Tendenzen. So lässt sich zum Beispiel feststellen, dass bei großen und komplexen Institutionen, zu denen vor allem Theater gehören, die Herausforderungen besonders groß sind. Wir sehen aber auch zahlreiche Gemeinsamkeiten: Zum Beispiel stehen alle Häuser vor der Aufgabe der Diversifizierung im Personalbereich. Hier gibt es mit Maßnahmen wie der Anpassung von Stellenausschreibungen, der diversitätssensiblen Gestaltung von Bewerbungsgesprächen und der Ergänzung von Tätigkeitsprofilen spartenunabhängig übertragbare Lösungsansätze. Auch auf der Programmebene beschäftigen sich die Häuser nicht selten mit ähnlichen Themen. Ein Beispiel ist die Aufarbeitung des Kolonialismus, mit der sich sowohl Museen und Bibliotheken als auch Theater inhaltlich auseinandersetzen.
Wie blicken Sie, nach den Erfahrungen der letzten Jahre, auf die Rollen der Agent:innen?
Anna Zosik: Die Agent:innen haben sehr viel in den Häusern bewegt. Einige der Institutionen haben sich bereits vor dem 360°-Programm mit Fragen der Diversität beschäftigt, eine konsequente Bearbeitung des Themas auf struktureller Ebene ist allerdings erst mit dem Eintritt der Agent:innen erfolgt. Ich würde auch behaupten, dass sich die Qualität der Bearbeitung wesentlich erhöht hat – nicht zuletzt durch den kontinuierlichen Wissenserwerb der Agent:innen im Rahmen des Fortbildungsprogramms sowie durch den intensiven Fachaustausch in eigenen Netzwerken.
Durch das Netzwerk der 360°-Agent:innen ist ein Think-Tank entstanden, der viele verschiedene Kompetenzen vereinigt. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
Anna Zosik: Das Beste, was einem Förderprogramm passieren kann, ist, wenn die Beteiligten eine eigene Netzwerkstruktur unabhängig von der zentralen Programmsteuerung aufbauen und etablieren. Dadurch besteht die Chance, dass der Austausch nach dem Programmende fortgesetzt wird und zu einer avancierten Weiterentwicklung des Themas beiträgt. Ein Netzwerk von Menschen, die sich nicht nur theoretisch mit Diversität beschäftigen, sondern das Thema vor Ort, in den Institutionen praktisch bearbeiten und reflektieren, entwickelt eine fundierte Fachexpertise. Diese ist dringend notwendig. Deshalb freue ich mich sehr, dass die Theateragent:innen die Tagung „AUFBRECHEN! Ran an die Strukturen“ organisiert haben, bei der sie ihr wertvolles Wissen über das 360°-Programm hinaus teilen!
Die Agent:innen des Programms 360° der Ein- und Mehrspartenhäuser möchten mit der Tagung AUFBRECHEN zum Wissenstransfer und Austausch beitragen. Die Tagung läuft online vom 24. bis 26. Januar.
Mehr Informationen zur Tagung und zur Anmeldung gibt es hier.
Veröffentlichung: 24.1.22