Aufstand im Märchenland

In der neuen Moks-Produktion „Pech und Schwefel“ geht es um die Frage, wie man neue Bilder für alte Geschichten findet. Bei der Recherche ist Dramaturg Nils Matzka auf die Arbeiten der Bochumer Künstlerin Lui Kohlmann gestoßen, die queerfeministische Gegenbilder zu Märchenklischees gefunden hat. Dramaturg Nils Matzka hat Lui in ein Gespräch verwickelt.

Hallo Lui, erinnerst du dich noch an deine ersten Begegnungen mit Märchen und an Fragen, die du zu ihnen hattest?

Lui Kohlmann: Meine ersten Begegnungen mit Märchen hatte ich im Kindergartenalter, sowohl in bebilderten Kinderbüchern als auch in Form von Disneyfilmen, dem Sonntagsmärchen bei KiKa oder der Sendung SimsalaGrimm. Ich denke, das waren so die typischen Kindermedien der 90er Jahre, die ich da konsumiert habe. Hinterfragt habe ich die Geschichten und Rollen in den Märchen nicht bewusst. Es war eher ein Staunen, Bewundern und Aufsaugen der Materie a la “So ist das also”. Und zugleich war ich schon traurig, dass nie zwei der tollen Prinzessinnen zusammenkamen, denn die meisten Prinzen waren einfach nur langweilig. Der Gedanke, dass es auch anders sein, kam erst viel später.

Du beschäftigst dich als freie Künstlerin in einigen deiner Arbeiten mit Klischeebildern von Hexen und Prinzessinnen – zwei Figuren, die uns auch in „Pech und Schwefel“ begegnen. Dabei findest du im wörtlichen Sinn neue Bilder und schenkst den Figuren Vielfalt. Was hat dich zu diesen Arbeiten gebracht?

Lui Kohlmann: Bei den Prinzessinnen handelt es sich um Ausmalbilder, die auf meiner Website kostenlos runtergeladen und zu Hause ausgedruckt werden können. Prinzessin bedeutet in dem Fall einfach nur „Person in einem schicken Ballkleid“ – also unabhängig von Adelstiteln oder Geschlecht. Ich selbst war als Kind total vernarrt in Prinzessinnen, vor allem die Kleider haben es mir angetan. Das Problem bei den meisten Prinzessinnen ist allerdings, dass sie so einseitig sind. Einige Produktionsfirmen tun da langsam schon ein paar Schritte in die richtige Richtung, vor allem wenn es um die Repräsentation von People of Color geht. Aber Queerness ist immer noch ein heikles Thema. Ich hoffe, dass ich mit meinen Prinzessinnen ein paar Kinder erreiche, die sich in den konventionellen Prinzessinnen nicht wiederfinden. Das muss nicht nur in Bezug auf Queerness sein. Auch Prinzessinnen mit Hörgeräten, Brillen, Gehhilfen oder Augenpflastern sind leider immer noch völlig selten! Das möchte ich mit meinen Ausmalbildern ändern und den Kindern zeigen: Du gehörst auch dazu.

Und die Hexen?

Lui Kohlmann: Die Hexen wiederum sind in den meisten Märchen einfach nur fiese, alte, hässliche Frauen mit Superkräften. Aber gleichzeitig sind sie auch eine feministische Projektionsfläche, als mächtige, selbstbestimmte Frauen. Diese Projektionsfläche interessiert mich. Die Sehnsucht nach einer Welt, in der es keine Hexenverfolgung und keine Einhegung der Frau gibt. Und wenn es dann auch noch eine Welt ist, in der es Magie gibt, bin ich vollends begeistert! Das war die Ausgangslage für mein jüngstes Projekt, die „Hammerhexen“, eine Zeitschrift aus einer solchen Welt, mit Artikeln zu fiktiven Hexen und Hexendiskursen, fiktiver Popkultur der Hexen, Persönlichkeitstests, Rätseln und Ratgebern…

Du sprichst viele Aspekte an, die uns auch bei „Pech und Schwefel“ beschäftigen. Gerade die populären Grimm‘schen Märchen zeigen eine Welt voller diskriminierender Schönheits- und Leistungsideale, in der es häufig bestraft oder als „böse“ abgestempelt wird, wenn man der Norm nicht entspricht. Warum ist es aus deiner Sicht trotzdem wichtig, Märchen zu erzählen, anstatt sie ganz abzuschaffen?

Lui Kohlmann: Etwas neu zu erzählen hat wesentlich mehr Kraft, als einfach nur etwas zu verbieten. Denn es einfach nur zu verbieten hieße ja, es auf diese Art zu konservieren. Gerade Märchen leben davon, immer neu erzählt zu werden. Es gibt also keine originalen, „richtigen“ Fassungen – und genau das ist eine Stärke! Die interessantesten Märchen, die ich kenne, sind die von Michael Cunningham in Ein wilder Schwan. Bei ihm ist zum Beispiel das Rumpelstilzchen kein Bösewicht, sondern eine sehr väterliche Figur, ein liebevoller Familienmensch, dessen großes Unglück darin besteht, kinderlos zu sein. Ich denke, es kann sehr produktiv sein, einfach mal den Blickwinkel zu ändern und auch die zunächst unliebsamen Figuren empathisch zu betrachten. An dieser Stelle möchte ich allerdings noch kurz warnen, dass dieses Märchenbuch von Michael Cunningham wirklich nicht für Kinder geeignet ist, da einige der Märchen dort sehr düster sind. Wenn es um kindgerechte Neuerzählungen und Neudichtungen von Märchen geht, sollte man lieber zu dem viel besprochenen Märchenland für Alle von Boldiszár M. Nagy greifen. Es gibt so viele Märchen auf der Welt, aber die meisten Leute kennen nur die immer gleichen Dutzend. Wir müssen gar nicht alle Märchen neu schreiben, wenn wir diesem Schema entkommen wollen. Es reicht oft schon ein Blick über den Tellerrand.

Wie wünschst du dir die Märchen der Zukunft?

Lui Kohlmann: Ich wünsche mir, dass wir uns weiterhin trauen, aus dem vollen, fantastischen Material zu schöpfen, das uns vorliegt und es nach unseren Belieben verändern – oder eben die Teile, die wir mögen, so lassen wie wir sie vorgefunden haben, auch das ist legitim. Märchen zu erzählen ist eine soziale Handlung, etwas Zwischenmenschliches, das wir immer wieder neu erfinden können. Gerade deshalb sollten wir Märchen nicht nur den großen Entertainmentkonzernen überlassen, sondern auch selbst in die Hand nehmen.

 

 

Veröffentlichung: 02.11.22