Aufwachsen mit der Zauberflöte
Regisseur Michael Talke hat schon eine etwas längere Geschichte mit der Zauberflöte. Jetzt bringt er sie zum ersten Mal selber auf die Bühne. Doch nicht ganz original, denn das ging wegen der Coronabeschränkungen in der Probenphase im letzten Herbst nicht. Die leitende Dramaturgin im Musiktheater, Brigitte Heusinger, hat mit ihm gesprochen.
Schon nach den ersten Tönen fällt auf: Hier ist etwas anders, denn statt der Ouvertüre klingen Variationen über Themen der Zauberflöte von Ludwig van Beethoven. Die zweistündige Fassung mit einem Kammerorchester im Graben folgt dann mit einer weiteren Ausnahme Mozarts Musik und hat einen Erzähler im Zentrum: Schauspieler Martin Baum führt als Papageno durch die Handlung.
Er sei mit der Zauberflöte aufgewachsen, sagt Regisseur Michael Talke.
In seinem Elternhaus gehörte die Oper einfach zum bürgerlichen Wertekanon. Ein Wertekanon, der weitergegeben werden sollte. Was bei Michael Talke funktionierte. Er liebte sie einfach, die Zauberflöte, ohne eigentlich zu wissen, warum. Vor allem faszinierte ihn die Welt der Königin der Nacht. Vor seinem inneren Auge sieht er noch immer die erste Zauberflöten-Inszenierung seines Lebens in Basel, die wohl gar nicht mal so gut war. Aber die Berge, die sich teilten, die Berge, durch die die Königin auftrat und die sich hinter ihr wieder wundersam schlossen, die hatten es ihm angetan. Riesig waren sie, was er sich heute damit erklärt, dass er damals einfach noch „ein kleiner Mensch“ war – fünf Jahre alt. Noch heute, wenn er die Musik hört, scheinen diese alten Bilder auf und Erinnerungen an den faszinierenden Schauer, den die Töne dieser „abartigen Arie“ der Königin der Nacht auslösten, als er sie zum ersten Mal hörte. Und er sieht sich selbst: jenen kleinen Jungen, der gemütlich im großen Sessel sitzt, die Kerzen am Weihnachtsbaum brennen – denn schließlich war Weihnachten ein Anlass, die Zauberflöte auf Platte geschenkt zu bekommen. Und er hört seine eigene Stimme: „Bitte noch mal!“ Der Vater möge doch bitte die Schallplatte erneut umdrehen und die Nadel wieder vorsichtig auf die andere Seite setzen.
Als ihn jetzt – einige Jahrzehnte danach – Michael Börgerding gefragt habe, ob er die Regie der Zauberflöte übernehmen wolle, habe er erstmal abgewinkt.
Zu viele Tücken und Stolpersteine. Doch er las das Buch des Ägyptologen Jan Assmann, hörte die Musik und langsam meldete sie sich, die inzwischen gereifte Faszination: „Über alle Kindheits- und Quotensehnsüchte hinaus, entdeckte ich für mich eine sehr merkwürdig moderne Art der Dramaturgie. Man kann das Libretto für schwierig halten und ablehnen oder aber als Vehikel benutzen, die Motive, die in dieser Oper eine Rolle spielen, miteinander zu verbinden. Es entsteht dann eine Collage, oder wie man heute sagen würde, ein Assoziationsstrom.“
Ein Assoziationsstrom, der sich zu einem Konzept verdichtete.
Schnell war ihm klar, dass er einen Schauspieler als Papageno haben wollte. Einen Papageno, der singt, der spielt, der durch die Handlung führt, sie frech kommentiert und der einen Kontrapunkt setzen kann gegen die schwierigen Setzungen des Librettos, wenn es um Themen wie Geschlecht und Rassismus geht. Doch der eigentliche Ausgangspunkt seiner Interpretation ist ein anderer. Viele Jahre lang wurde von dem „berühmten Bruch“ in der Zauberflöte gesprochen und Komponist Mozart wie Librettist Schikaneder dafür kritisiert, dass sie die Wesenszüge der Königin der Nacht wie Sarastros nicht linear durchgezogen hätten. Warum stiftet die strahlende Königin des Beginns auf einmal zum Mord an, warum erweist sich der brutale Sarastro, der Monostatos siebenundsiebzig Sohlenstreich verordnet, am Schluss als aufgeklärter Humanist? Talke interpretiert diesen Bruch als realistisches psychologisches Muster:
„Die Zauberflöte ist eine Geschichte der Menschwerdung, eines Coming of age.“
„Es ist eine Geschichte der Loslösung von Eltern(-figuren) und beschreibt einen Wechsel, den wir alle vollziehen müssen: die Entwicklung von einem idealisierten zu einem realistischen Elternbild.“ Die angehimmelten Vorbilder der Kindheit werden in der Pubertät zu Negativfiguren, an denen man sich abarbeiten muss, bevor man dann imstande ist, seine Eltern so zu sehen, wie sie wirklich sind, mit all ihren Schwächen und Stärken. Der Bruch wird hier also interpretiert als ein Wechsel der Perspektive. Nicht die Figuren als solche verändern sich, sondern der Blick auf sie, auf Sarastro und die Königin. Und es ist der Blick der verschiedenen Lebensalter. Daher finden sich auf der Bühne Kinder, Jugendliche, die auf Elternfiguren blicken, die eben strahlend sind und doch altern, ihren Glanz verlieren oder die durchtrieben scheinen und doch scheinbar vor allem ihre Pflicht tun. Als Michael Talke dann so auf einer Probe saß und vor ihm die Kinder und die Jugendlichen sah, schoss es ihm durch den Kopf:
„Krass, eigentlich ist diese Geschichte, die wir da erzählen, meine eigene Geschichte mit der Zauberflöte.“
Denn nach der Phase der uneingeschränkten Bewunderung hat er es mit der Zauberflöte in den 80er Jahren während seines Studiums in München „wieder versucht“. „Auch wenn die identitätspolitischen Diskussionen noch viel schärfer geworden sind, fand ich es damals schon unsagbar, was dort über Frauen berichtet wurde. Ich habe mich mit Händen und Füßen gegen eine Figur wie Monostatos gewehrt und den Autoritätsstaat von Sarastro. Und natürlich ist mir aufgestoßen, dass die Zauberflöte so ein bildungsbürgerliches Muss war.“ Ja, nach der Affirmation, der Ablehnung hofft er jetzt in einem Realismus angekommen zu sein. „Ich habe nicht mehr das Gefühl, für oder gegen die Figuren sein zu müssen oder für und gegen die Zauberflöte als solche, sondern ihre Ambivalenz als besondere Herausforderung zu sehen. Die Figuren stehen in einem Dazwischen, das man aushalten muss.“ Viele Interpretationen hat er erlebt, „mit Versatzstücken, die man alle schon gesehen hat und die immer neu zusammengesetzt werden.“ Jetzt macht er es selber. Mit allen Zweifeln, die dazu gehören. Und pendelt, „zwischen der Tiefe der Musik und der scheinbaren Oberflächlichkeit der Librettos.“ Aber, wenn man dieses Libretto als „Moderation“ nehme, dann bestände die Zauberflöte aus ganz tiefen archaischen Gefühlen, Konflikten, die uns allen eingeschrieben seien. Und aus Themen, auf die man in verschiedenen Lebensaltern unterschiedlich reagiere – je nachdem, wo man gerade in seinem Leben stände.
Veröffentlichung: 22.11.21