BEING JOHANNA
Ein Text ausgehend von einem Gespräch mit den Schauspielerinnen Shirin Eissa und Nadine Geyersbach über die Figur Johanna und was es heißt heute Johanna zu sein. Von Theresa Schlesinger.
Wer ist Johanna?
Bertolt Brecht benennt sein Stück Die Heilige Johanna der Schlachthöfe direkt nach der Protagonistin und macht damit von vornherein klar, wer hier im Mittelpunkt steht. Mit vollem Namen heißt sie Johanna Dark, ist 25 Jahre und durch und durch tugendhaft. Diese Tugend, ihr großes Herz, die Nächstenliebe und Wohltätigkeit, bringen Johanna jedoch nur Schritt für Schritt dem Abgrund entgegen, können sie doch in der kapitalistischen Welt nicht wirklich etwas bewirken. Ihr Idealismus prallt ab an der Härte der Welt. Eine junge Frau, Johanna, steht auf den Schlachthöfen, um sich für die Belange der Arbeiter:innen einzusetzen, für die Armen, gegen die Reichen, die Ausbeuter. Eine junge Frau, Johanna, kämpft und geht an diesem Kampf zugrunde.
Wer ist „Johanna“?
Johanna ist Projektionsfläche. Sie vereint in sich die Hoffnung auf eine bessere Welt, versammelt hinter sich eine Bewegung, die alleine nicht stehen kann. Und sie ist Kunstfigur, ein Beispiel für die scheinbare Unmöglichkeit gegen die Schlechtigkeit des Kapitalismus anzukommen – zumindest nicht allein. Sie wird vereinnahmt vom bösen Kapitalist Mauler, ihr Anliegen wird im Fleischwolf herum gedreht und für die Zwecke des Geldes genutzt und am Ende muss sie sterben.
Wer könnte „Johanna“ sein?
Nadine Geyersbach war Johanna. Im Frühjahr 2020, als die Produktion unter der Regie von Alize Zandwijk noch für die große Bühne geprobt wurde, verkörperte sie mehrere Wochen diese Johanna der Schlachthöfe. Sie trägt sie noch weiter in sich, auch wenn nun die Rollen anders verteilt sind. Nach zweieinhalb Jahren Pandemie hat sich die Produktion, die am 9. September nun endlich zur Premiere kommt, ziemlich verändert. Nadine Geyersbach ist mittlerweile nicht mehr Johanna, sondern ihr Gegenspieler, Mauler: der fieseste und mächtigste unter den Großhändlern der Viehbörse Chicagos. In ihm vereint sich alle Schlechtigkeit des Kapitalismus, gepaart mit der Moral, die diese Figur eben doch unweigerlich in sich trägt und sie nicht loslässt. Schlechtes tun, ohne schlechtes Gewissen, geht das?
Shirin Eissa ist jetzt unsere Johanna. Sie verkörpert eine andere Generation, bringt einen Aspekt mit, der tagesaktuell nochmal die Frage danach aufwirft, wer eigentlich die Johannas unserer Zeit sind. Sie heißen vielleicht Greta, Luisa, Aminata, Alexandria, sind jung und widerständig. Sie stellen sich den Mächtigen unserer Zeit und führen Bewegungen an, werden laut und unbequem, sind dabei aber auch immer eloquent und erfolgreich. Sie vereinen hinter sich viele, aber es sind doch ihre Gesichter, die uns immer wieder begegnen, ihre Persönlichkeiten und Geschichten, die im Vordergrund stehen und ihr Leben, was sie dafür, dass sich endlich etwas bewegt, teilweise hergeben müssen.
Wir fragen uns: Wo ist der Startpunkt einer Bewegung?
Stell dir vor die Bewegung ist ein Klumpen Teig, eine Masse, die du versuchst zusammen zu halten, du versuchst einen Klumpen zu machen. Und kaum ist sie mal in einer Form, flutscht an der einen Seite wieder was raus. Und es hält nicht und es passt nicht. Das ist unglaublich anstrengend. Deshalb braucht es vielleicht jemanden, der vorne weg läuft, jemanden, der das alles zusammen hält, jemanden der oder die anfängt mit einem kleinen Tropfen, aus dem dann der Klumpen werden kann.
Wir brauchen vielleicht jemanden, der uns sagt, was alles falsch läuft, uns vorsagt, wie es anders gehen könnte. Jemand, der die Verantwortung übernimmt, immer und immer wieder.
Wir fragen uns: Wie hält man das aus, diese Person zu sein?
Es bleibt ja nie bei dem, mit dem man startet. Etwas wird aus dir gemacht. Das Anliegen, das am Beginn der Proteste steht, der Ausgangspunkt der Revolte, wird vermischt, vereinnahmt, vergrößert oder gar verändert. Wie kann man sich treu bleiben bei all dem Druck?
Was wir wissen: Das kapitalistische System ist überholt. Es ist nicht so, dass es nichts anderes gibt. Warum laufen die meisten noch den falschen Leuten hinterher? Und warum braucht es immer wieder jemanden, der uns die Anstrengung abnimmt? Schon Patti Smith hat ja gesagt: „Jesus died for somebodies sins but not mine.“ Wir müssen aufhören mit der Heroisierung einer einzelnen Person. Es wird nicht DIE eine Person kommen, die uns rettet. Wir müssen selbst Verantwortung übernehmen für unser Handeln.
Wir fragen uns: Muss es immer groß sein?
Wieso nicht einfach bei uns selbst anfangen? Die Veränderung kommt vielleicht stetig. Wir müssen nur weiter machen. Es muss nicht immer schnell und groß sein. Auch der Tropfen auf dem heißen Stein, kann beim Verdampfen zu einer noch größeren Bewegung führen. Sind das nicht viele kleine Tropfen, die dann zusammen verdampfen und etwas Neues bilden? Eine riesige Wasserdampfwolke, die wiederum mit ihrer Flüssigkeit neue Oberflächen benetzen kann?
Eine kleine Veränderung bringt nichts? Wir müssen klein anfangen, um großes zu bewirken!
Wir haben ja schon so viel überwunden. Wir müssen uns einfach nur vorstellen, wie wir dieses komische Konstrukt – Kapitalismus, Neoliberalismus – überwinden und dabei zusammenhalten. Die Bewegung zum Kopf machen und nicht den Kopf vorne weg laufen lassen, um ihn schließlich zu opfern.
Wir fragen uns: Wie könnte es weiter gehen?
Wir fangen bei uns selbst an. Im Theater. Theatre for Future. Wir bauen nachhaltige Bühnenbilder. Verschwenden keine Materialien mehr. Verzichten auf Flüge. Achten aufeinander. Lassen alle teilhaben und erfinden gemeinsam neue Formen. Weil Theater auch etwas bewegen kann: Im besten Fall hat Theater eine einzigartige Kraft, die sich entfaltet, wenn wir gemeinsam in einem Raum sind, uns Geschichten erzählen und von diesen Geschichten berührt werden. Da entsteht etwas einmaliges, nicht greifbares. Vielleicht gehen wir danach raus und hinterfragen alles, wie wir es vorher gemacht haben. Auch das kann Startpunkt einer Bewegung sein – die Berührung. Und wir erzählen die Geschichten anders. Auch die von Johanna.
Wir fragen uns: Warum muss immer die Frau am Ende sterben?
Vielleicht muss es noch Part 2 der Heiligen Johanna geben, in der sie als wütender Zombie zurück kommt und alle Männer, alle Kapitalistenschweine, in rasender Wut vernichtet, um auf ihren Ruinen etwas Neues aufzubauen. Dieses Stück hätte dann eine neue Moral: Es hilft auch keine Gewalt, wo Gewalt herrscht. Aber es helfen Menschen, wo Menschen sind. Also los, zusammenschließen und gemeinsam etwas bewegen!