Berührend, provokativ, unterhaltsam ...
Am 4. Mai beginnt das Festival TANZ Bremen, Partnerland ist in diesem Jahr Kanada. Über Europapremieren und Programmgestaltung spricht Anja Michalke mit der Festivalleiterin Sabine Gehm.
Anja Michalke: In der ersten Maihälfte stehen in Bremen alle Zeichen auf „TANZ“. Du verantwortest das umfangreiche Programm – worauf achtest du bei der Zusammenstellung der Produktionen?
Sabine Gehm: Ein Festival wie TANZ Bremen muss ein gewisses Spektrum des zeitgenössischen Tanzes abbilden und unterschiedlichste Handschriften zeigen. Daher geht der Auswahl des Programms immer eine internationale Recherche voraus mit Vorstellungs- oder Plattformbesuchen, Empfehlungen von Kolleg:innen oder dem Verfolgen der Arbeit mir bekannter Künstler:innen. Wir hatten uns außerdem vorgenommen, viele der eingeladenen Künstler:innen, denen wir in 2020 Corona-bedingt absagen mussten, doch noch nach Bremen zu holen. Bei einigen ist es uns gelungen. Sie kommen mit ihren aktuellen Stücken.
Jetzt reicht die Bandbreite des Programms vom schrill-bunten Eröffnungsspektakel bis hin zur kammerspielartigen Tanz-Klangperformance. Inhaltlich führen uns die Choreograf:innen auf unterschiedlichste Pfade: Sie hinterfragen Körperideale und untersuchen, was dort festgeschrieben zu sein scheint: Geschlecht, Herkunft, Verwundungen oder Beeinträchtigungen. Sie nehmen gesellschaftliche Konstellationen und Konventionen kritisch in den Blick. Sie suchen nach Einflüssen auf die (Tanz)Kunst und setzen mit großer Kreativität auf genreüberschreitendes Arbeiten. Aber auch für Menschen, die (noch) nicht ins Theater gehen wollen, bieten die XXL-Tanzprojektionen an Bremer Fassaden oder die Pop Up-Interventionen im Stadtraum Zufallsbegegnungen mit dem Tanz. Einführungsveranstaltungen, Publikumsgespräche und Workshops rahmen das Programm.
Ein diesjähriger Schwerpunkt ist der Fokus auf die kanadische zeitgenössische Tanzszene. Was zeichnet Kanada als Tanzland aus?
Sabine Gehm: Kanada und vor allem die Region Québec sind wichtige Keimzellen für den zeitgenössischen Tanz und haben schon viele bedeutende Choreograf:innen hervorgebracht. Einige hatten wir bereits zu vergangenen Festivals eingeladen. Jetzt präsentieren wir mit fünf Europapremieren und einer Deutschlandpremiere gewissermaßen die nachfolgende Generation – tänzerisch auf hohem Niveau und vielfältig, teilweise in einem spannenden Wechselspiel mit Musiker:innen live auf der Bühne.
TANZ Bremen und das Theater Bremen verbindet eine langjährige Partnerschaft...
Sabine Gehm: … die wir sehr schätzen und intensivieren. TANZ Bremen fand zwar schon immer auf den verschiedenen Bühnen des Theaters statt, aber in diesem Jahr feiern wir gewissermaßen die Zusammenarbeit durch ein „Unusual Symptoms/ Theater Special“, das die Vielfalt der aktuellen Arbeit des Ensembles abbildet. Und mit dem Synergy Lab bauen wir gemeinsam neue Wege für den Austausch zwischen zeitgenössischen und urbanen Tänzer:innen.
Was fasziniert dich persönlich an der Kunstform Tanz?
Sabine Gehm: Für mich ist der zeitgenössische Tanz immer sehr am Puls der Zeit. Es fasziniert mich, wie der menschliche Körper auf einer Bühne für das Publikum eine so unerschöpfliche Vielfalt von Botschaften, Assoziationen und Reflexionsebenen eröffnen kann. Der Tanz reflektiert aktuelle gesellschaftliche Fragen, ist nicht auf einen einzigen Formenkanon beschränkt, sondern sucht nach Erweiterung in angrenzende Disziplinen oder andere Genres. Die damit verbundene Vielfalt der Stücke finde ich spannend – sie kann berührend, provokativ, herausfordernd und/oder sehr unterhaltsam sein. Und natürlich bin ich froh darüber, Tanz wieder live erleben zu dürfen.
Gibt es etwas, was du dem Publikum mit auf den Weg geben willst?
Sabine Gehm: Zunächst natürlich: Kommt und seht euch so viel wie möglich an! Lasst die Stücke mit allen Sinnen auf euch wirken. Auch wenn – oder gerade weil – die Zeiten aktuell so bedrückend sind, kann das Erleben wieder Freiräume eröffnen, denn Kunst ist keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern hilft uns, sie neu zu sehen und besser zu verstehen.
Veröffentlichung: 2.4.22