„Was ich will, ist fließendes Wasser, Strom und einen friedlichen Platz, an dem niemand getötet wird."
Seit der letzten Vorstellung von Der Russe ist einer, der Birken liebt vor der Sommerpause ist viel geschehen in der Welt, Konflikte haben sich gewaltsam zugespitzt, vor allem in zwei Regionen, die im Roman eine wichtige Rolle spielen: Berg Karabach und Israel/Gaza. Dramaturgin Sonja Szillinsky im Gespräch mit Regisseurin Nina Mattenklotz und Schauspieler:in Jorid Lukaczik.
Sonja Szillinsky: Mascha Kogan, die Figur im Zentrum der Inszenierung, flieht Mitte der 1990er Jahre mit ihren Eltern vor dem armenisch-aserbaidschanischen Krieg nach Deutschland. Im September 2023 hat Aserbaidschan die Region erneut angegriffen, tausende von Armenier:innen wurden vertrieben. Verändert das aktuelle Geschehen euren Blick auf die Inszenierung?
Jorid Lukaczik: Die Folgen von Gewalt in Kriegsgebieten sind momentan wieder sehr allgegenwärtig, gerade in Bezug auf die Regionen, die du genannt hast. Maschas Geschichte verbindet sich jetzt noch unmittelbarer mit der aktuellen Gegenwart. Ihre Geschichte ändert sich nicht, trotzdem merke ich, dass es für mich im Spiel und in der Arbeit mit dem Text eine andere Behutsamkeit verlangt.
Nina Mattenklotz: Die Figur Mascha hat ein Kriegstrauma erlebt. In meiner Wahrnehmung war es für Mascha nicht entscheidend, wer wen angegriffen hat oder warum – sie war einfach ein viel zu kleiner Mensch, dem im wahrsten Sinne des Wortes eine getötete Frau vor die Füße fiel. Die Region um Berg Karabach findet keine Ruhe. Das ist erschreckend. Und es macht natürlich den Wunsch nach Unversehrtheit greifbarer, nicht unbedingt aktueller – dieser Wunsch, den Mascha im zweiten Teil des Abends ausspricht: „Was ich will, ist fließendes Wasser, Strom und einen friedlichen Platz, an dem niemand getötet wird.“
Jorid Lukaczik: Ja, dieser Wunsch von Mascha ist für mich nun noch zentraler und bedeutender.
Im zweiten Teil der Inszenierung arbeitet Mascha in Israel und erlebt, wie der Nahostkonflikt das Leben der Menschen dort beeinflusst. Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober und der militärischen Reaktion Israels ist auch diese Region aktuell im Ausnahmezustand.
Nina Mattenklotz: Ja, auch in Israel gerät Mascha zwischen die Fronten. Nicht nur durch ihre Arbeit bei einer NGO, sondern auch in der Auseinandersetzung mit ihrer Freundin Tal und deren Bruder Ori, die sehr unterschiedliche Positionen haben. Zum Schluss gerät sie in der Nähe von Ramallah im Westjordanland in einen Schusswechsel. Der Terror-Anschlag auf Israel und der darauffolgende Krieg lösen in meinem Umfeld viel Schweigen aus. Ich denke, es ist wichtig, zusammenzukommen und Fragen zum Nahostkonflikt zu teilen – so schwierig es ist.
Du hast es gerade angesprochen: Es treffen in der Inszenierung sehr unterschiedliche, zum Teil polarisierende Perspektiven aufeinander. Mascha begegnet Menschen, die sich politisch positionieren, manche treffen Annahmen über sie und konfrontieren sie damit.
Nina Mattenklotz: Ich war zwei Mal in Israel. Das Land ist klein und der Konflikt immer spürbar – bedrohlich und gewalttätig, auch in friedlicheren Zeiten. Maschas Überforderung im Umgang mit all diesen Positionen – radikalen wie gemäßigten – ist ein wichtiger Aspekt der Inszenierung. Sie ist Jüdin – viele erwarten von ihr daher eine konkrete Haltung.
Mascha und ihre Eltern kommen als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Es gab in den 1990er Jahren ein Abkommen, das es nach dem Zerfall der Sowjetunion Juden und Jüdinnen ermöglichen sollte, in Deutschland zu leben und die jüdischen Gemeinden zu stärken. Im Moment nehmen antisemitische Straftaten in Deutschland erschreckend zu, Juden und Jüdinnen werden bedroht.
Nina Mattenklotz: Juden und Jüdinnen sind derzeit von Angst, Gewalt und Bedrohung betroffen. In Deutschland und international. Das ist erschreckend und falsch. Die Radikalisierung von Positionen ist ja eine Entwicklung, die schon länger stattfindet. Umso wichtiger ist es zu differenzieren: Jüdische Menschen sind nicht gleichzusetzen mit den politischen Entscheidungen Israels. Muslimische Menschen sind nicht gleichzusetzen mit der menschenverachtenden Gewalt der Hamas. Maschas Wunsch nach Frieden schließt auch ihre Identität ein: Sie möchte als Jüdin in Deutschland, in Israel und in der Welt in Frieden leben – ohne Zuschreibungen, ohne Gewalt und ohne Angst. Dieser Wunsch ist der Wunsch nach einem humanistischen Miteinander, in dem die Sicherheit der Menschen an erster Stelle steht. Ich teile diesen Wunsch zutiefst.
Was hat sich durch die aktuelle Lage in Israel und Gaza für euch in Hinblick auf die Inszenierung verändert? Was war euch wichtig in Bezug auf die Wiederaufnahme?
Nina Mattenklotz: Für mich persönlich waren viele Äußerungen im Stück schon zu Beginn der Auseinandersetzung mit diesem Stoff brisant, berührend, herausfordernd und schwierig, weil sie nicht immer meiner eigenen Überzeugung entsprechen. Sie zeigen jedoch die Komplexität des Konflikts und auch die Alltagssituation in Israel, die schon vor elf Jahren, als der Roman erschien, extrem war. Diese Alltagssituation hat sich nun verändert: Ich weiß gar nicht, ob es das Israel, das Mascha kennengelernt hat, noch gibt … wahrscheinlich nicht.
Jorid Lukaczik: Ja, ganz praktisch gesprochen, fand ich es wichtig, gemeinsam zu entscheiden, welche Sätze wir als Schauspielende in der momentanen Situation sagen und hören wollen und können, und welche nicht, weil sich Assoziationen verändern können. Darüber sind wir – das Team und das Ensemble – im Gespräch.
Wenn wir eine Vorstellung spielen – oder ansehen – befinden wir uns immer in der Gegenwart, das ist eine der grundlegenden Eigenschaften von Theater. Gleichzeitig ist das Jetzt einer Geschichte auf der Bühne selten identisch mit dem Jetzt des Publikums. Wie empfindet ihr diese Diskrepanz?
Nina Mattenklotz: Ich mag die Langsamkeit des Theaters. Ich mag es, dass wir uns im Theater wochenlang mit Szenen auseinandersetzen und schon zur Premiere die Welt manchmal eine andere ist als zu Probenbeginn. Manchmal bauen wir die Veränderungen in die Texte oder die Szenen ein, manchmal verändert sich lediglich das Bewusstsein über bestimmte Texte und sowohl der Text als auch die szenischen Verabredungen bleiben, wie sie geprobt wurden. Wenn sich die Verhältnisse derartig zuspitzen, wie im aktuellen Fall, brauchen wir Zeit, um die Dinge zu prüfen und eine neue Einigung zu finden. Ich erlebe das als Herausforderung, immer wieder dran zu bleiben, meine Arbeit und deren Inhalt zu prüfen und meine Haltung zu hinterfragen – das ist ein Grund Theater zu machen.
Jorid Lukaczik: Es ist eine Herausforderung. Ich merke, es ist entlarvend, wenn Geschichten wie Maschas für einige plötzlich „nahbarer“ scheinen, aus dem vermeintlich „Verborgenen“ kommen, während sie für andere Menschen immer präsent, weil erlebt, sind. Aber in diesem Entlarven kann auch die Stärke des Theaters liegen: Erzählte Geschichten gehen uns etwas an, immer. Und zusätzlich kann in solch einer Zeit ein Ort für Austausch und Zusammensein gegen die gefühlte Hilflosigkeit geschaffen werden.
Die Wiederaufnahme von Der Russe ist einer, der Birken liebt ist am 24. Januar im Kleinen Haus zu sehen.
Veröffentlicht am 16. Januar 2024