Blickwechsel oder Die entsetzliche Stille
Eine Theaterpredigt von Pastor Rolf Sänger-Diestelmeier zur Inszenierung von Jakob Lenz
Blickwechsel ist ein Format, das Theater und Theologie miteinander in Beziehung treten lässt. In Kooperation mit der Kulturkirche St. Stephani kommen Dramaturg*innen und Pastor*innen ins Gespräch über aktuelle Produktionen, sie tauschen Positionen aus und schaffen einen gegenseitig bereichernden Raum der Begegnung, der stets neue Blickwinkel auf bekannte Stoffe ermöglicht. Eigentlich hätte dieser gemeinsame Denkraum am 31. März 2020 im Theater-Foyer stattfinden sollen: Wir – Pastor Rolf Sänger-Diestelmeier und Dramaturgin Isabelle Becker – wollten unser anregendes Gespräch über Wolfgang Rihms Kammeroper Jakob Lenz an diesem Abend fortsetzen. Wegen der Corona-Pandemie verlagern wir den Diskursort in unser Online-Magazin. Pastor Rolf Sänger-Diestelmeier hat seine Gedanken zur Inszenierung in einer „Theaterpredigt“ zu Papier gebracht, hat sich mit den Themen der Stille in einer schweigenden Welt, Einsamkeit und Transzendenzverlust als auch dem Begriff der Resonanz auseinandergesetzt. Gedanken, die wir gerne mit Ihnen teilen wollen – pünktlich zu unserem angesetzten Blickwechsel-Termin und passend zu den verwirrenden und teils absurden Erfahrungen in dieser Zeit. (Isabelle Becker)
Im Jahre 1835 schrieb Joseph von Eichendorff einen Vierzeiler unter der Überschrift Wünschelrute:
„Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“
Im gleichen Jahr arbeitet Georg Büchner in seinem Straßburger Exil unter anderem an seiner Erzählung Lenz, in der es um eine ganz andere Welterfahrung geht:
„Lenz
Hören Sie nichts? Hören sie nichts?
Oberlin
Was denn, mein Lieber?
Lenz
Hören Sie nicht diese entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich Stille nennt?“
Verstummt ist der Gesang der Welt. Nichts als schreiende Stille. Und auch Lenz selbst hat kein Lied und kein Wort mehr, schon gar nicht ein Zauberwort. „Ich habe keinen Schrei für den Schmerz. Kein Jauchzen für die Freude, keine Harmonie für die Seligkeit“, so heißt es an einer Stelle in Michael Fröhlings Libretto für Wolfgang Rihms Oper. Dies ist übrigens ein Zitat von Büchner selbst aus einem Brief an seine Braut. Es war Büchners Bruder Ludwig, der später einmal schrieb, Georg habe „in Lenzen´s Leben und Sein … verwandte Seelenzustände“ gefühlt und die Erzählung sei „halb und halb des Dichters eigenes Portrait“.
Erkennt also Büchner sich im Schicksal des Dichters Jakob Lenz wieder, dem er in den Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin begegnet war, so entdeckt Wolfgang Rihm offenbar unsere Situation einer schweigenden Welt, einer verstimmten Moderne in der Erzählung Büchners wieder, und macht sie zur Leitmotivik seiner Oper, die mit einem dissonanten Tritonus-Akkord der tiefen Streicher beginnt und endet – wie schmerzhaft surrende Nervenstränge. Und aus diesem dissonanten Akkord heraus entsteht ein unartikulierter Schmerzensschrei.
Es war Albert Camus, der unsere Welt und die Grundverfasstheit menschlicher Existenz als eine Absurde gedeutet hat. In seinem Essay Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde schreibt er: Das Absurde entstehe aus einer Konfrontation zwischen dem menschlichen Ruf und der vernunftwidrigen Stille der Welt. Es ist die Erfahrung einer existenziellen Fremdheit in einer feindseligen, gleichgültigen Welt, eine Beziehung der Beziehungslosigkeit und Entfremdung, der „Schauder der einsamsten Einsamkeit“ unter dem dummen und blinden Blick mitleidloser Sterne (vgl. Friedrich Nietzsche, Oedipus).
Büchners Lenz gleicht dabei dem heimatlosen Wanderer in Schuberts Winterreise, der davon singt, sich selbst den Weg in der Dunkelheit weisen zu müssen. Ein Wanderer, der sich Mut zu singen will, indem er nicht mehr hört auf das, was sein Herz ihm sagt, nicht mehr fühlen will, was es ihm klagt, sondern in dem Lied Mut grässlich lachend singt: „Lustig in die Welt hinein gegen Wind und Wetter. Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter.“
So lacht auch Lenz: Als er in verzweifelter Jesus-Imitatio vergeblich eine Tote erwecken will und die Furien ihn ins Gebirge treiben. Da war in seiner Brust (so heißt es bei Büchner) „ein Triumph-Gesang der Hölle (…) es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen (…) So kam er auf die Höhe des Gebirges (…) und der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich drin, einfältig. Lenz musste laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und fasste ganz sicher und ruhig und fest.“
Ein dummer Himmel und ein lächerlicher Mond. Natur und Gestirne haben nichts Tröstliches mehr. Das Universum hat seinen bergenden, schützenden Charakter verloren. Es ist eine kalte, leere Welt. Und der Mond ist nicht mehr das freundliche Nachtgestirn, dessen Aufgang Lyriker Matthias Claudius besungen hat: Die Welt nicht mehr traulich und hold, die Nacht keine stille Kammer, wo wir des Tages Jammer verschlafen und vergessen können. Der nur halb zu sehende Mond kein Gleichnis mehr dafür, dass das, was wir vor Augen haben, noch nicht das Wahre ist, sondern nur ein Verweis auf das Heil Gottes, dessen Fülle noch aussteht. Sondern hier hängt der Mond nur dumm und einfältig am Nachthimmel.
Der Lenz in der Bremer Inszenierung trägt einen Matrosenanzug mit kurzer Hose, also jene Kinderkleidung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebtes Kleidungsstück für Jungen, aber als Matrosenkleid auch für Mädchen geworden ist, also eigentlich eine Uniform, aus der sich später in einigen Ländern die Schuluniformen entwickelten, die Kleidung für jene Institution, die die Kinder zurichtet für ihr Leben in der Gesellschaft. Jakob Lenz, wiewohl erwachsen, ist ein verlorenes krankes Kind, ein verlorener Sohn und gleicht darin dem armen Kind in dem Märchen der Großmutter von Büchners Dramenfragment Woyzeck: „Alles tot, und es ist hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam, warn’s klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Topf und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und geweint und da sitzt’ es noch und ist ganz allein.“
Ich halte mich bei diesen Beobachtungen des Schweigens und Verstummens der Welt, zu Transzendenzverlust und Einsamkeit, zu Lenzens Ringen um Sprache, Antwort, Gehört- und Verstandenwerden so lange auf, weil zum einen in der Tat das Ausbleiben einer Antwort, die Entfremdung vom Gegenüber, die Vereisung grenzenloser Einsamkeit zu den entscheidenden Erfahrungen der Figur des Lenz gehören und auch von Rihm so komponiert wurden: Wenn er etwa häufig den Sänger Klänge erzeugen lässt zwischen Singen, Sprechen, Sprechen, Flüstern, Schreien, Lachen, Atmen oder Würgen und wenn er zum Beispiel die zunehmende Entfremdung zwischen Oberlin und Lenz immer wieder mit Generalpausen im Orchestersatz verdeutlicht.
Zum anderen interessiert mich diese Erfahrung des Schweigens der Welt gerade deshalb, weil ich es höchst überzeugend finde, wie der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa mit Hilfe der dem akustisch-musikalischen Bereich entstammenden Metapher der Resonanz eine Soziologie der Weltbeziehung entwickelt. Resonanz, das ist so etwas wie das Aufblitzen der Hoffnung auf Anverwandlung und Antwort in einer schweigenden Welt. Unter uns wächst die Erfahrung der Welt als eine Zurückweisende und Feindliche oder als Indifferente – das also, was die sozialkritischen Klassiker mit dem Begriff der „Entfremdung“ bezeichnet haben. Und eben dies ist die Erfahrung von Lenz: Die Welt sagt ihm nichts mehr. Es ist alles nur noch Langeweile. „Die meisten beten aus Langeweile, die andern verlieben sich aus Langeweile, tugendhaft, lasterhaft, ist nichts, gar nichts. Ich mag mich nicht einmal mehr umbringen: Es ist zu langweilig.“
Wir kennen aber auch – mindestens als Inseln – die gegenläufige Erfahrung von Resonanz, dass uns die Welt zugänglich ist und antwortet. Dann reagiere ich mit: „Das spricht mich an“, da bin ich berührt vom Anderen, da sprechen wir davon, dass wir „einen Draht zueinander“ haben oder „auf einer Wellenlänge“ sind. Und gleichwohl ist dies andere nicht Echo und Nachhall meiner eigenen Stimme, sondern bleibt die Stimme eines unverfügbar Anderen, das mich berührt oder ergreift, es mag eine Person, eine Sache oder Aufgabe, die Natur oder ein Kunstwerk sein. Der wesentliche Kern religiöser Erfahrung liegt in der Idee einer entgegenkommenden, antwortenden Welt, die uns berührt.
Im 20. Jahrhundert wurde diese Idee prominent vom jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber vertreten. Für ihn war die Bezogenheit die erste und elementarste Eigenschaft allen menschlichen Seins. Sein zentraler Satz ist: „Am Anfang war Beziehung.“ Und Begegnung und Beziehung machen unser Leben und seinen Sinn aus, die Beziehung und Begegnung von Ich und Du, von Mensch und Natur, von Mensch und Gesellschaft, von Mensch und Gott. Wir werden zum Ich am Du – am Gegenüber – und sind auf ein Du hin erschaffen. Erst in der Begegnung mit einem antwortenden Du kommt das Subjekt zu sich selbst und findet das wirkliche Leben. Und die Bibel lässt sich resonanztheoretisch deuten als ein Buch des Flehens und Schreiens, des Bittens und Betens, des Wartens und Harrens, Flüsterns und Rufens nach Antwort. Und man könnte hinzufügen, dass dieses Buch vielleicht ein einziges großes Gegenversprechen gibt, das da lautet: Da ist einer, der dich hört, der Dich versteht und der antwortet.
Es ist für mich völlig überzeugend, dass an der besagten Stelle, da Lenz wie ein Kind in magischer Religiosität ein Wunder Jesu erprobt und ein totes Kind zum Leben erwecken will, ihm in der Bremer Inszenierung seine in ein Brautkleid gewandete Angebetete, Friederike Brion, in Gestalt einer unendlich gütigen und von Kindern umgebenen alten Frau mit lächelndem Gesicht erscheint. Wer noch in religiöser Bildersprache verwurzelt ist und sich auf sie versteht, mag hier die alte Segensformulierung assoziieren, mit der jeder Gottesdienst verheißungsvoll schließt. „ER segnet dich und behütet dich. ER lässt sein Angesicht leuchten über dir und ist dir gnädig. ER wendet dir sein Angesicht freundlich zu und gibt dir Frieden.“ Es geht ja in dieser bildhaft anthropomorphen Formulierung (und wie sollten wir anders von Gott reden als in anthropomorphen Bildern) nicht darum, wie Gott etwa aussieht, sondern um eine Glaubensaussage darüber, wie ER uns ansieht: freundlich, mit leuchtendem Antlitz über uns. Lenz evoziert hier also das Bild von Liebe und bedingungslosen Angenommenseins, also das Urbild des Blicks der Mutter.
Aber hinter diesem dann verblassenden Bild gähnt in der Inszenierung der leere Zuschauerraum des Theaters. Was kann es Deprimierenderes geben als solche resonanzlose Leere? In einem Bericht über das James Blunt-Konzert in der Elbphilharmonie (vom 13. März 2020 im Weser-Kurier), das wegen des Corona-Virus vor leeren Rängen spielte, heißt es: „Totenstille im Saal. ‚How it feels to be alive.‘ Ein Song über den Tod (…) Blunt ballt die Faust und singt sich die Seele aus dem Leib. Der Saal mit seinen leeren Plätzen wirkt gespenstisch. Noch merkwürdiger ist es, als am Ende des Songs der Applaus ausbleibt.” Martin Buber beschreibt den Verlust jeglicher Resonanz folgendermaßen. Wenn der Mensch keine Ich-Du-Beziehungen erlebt, dann „überwuchert ihn die unablässig wachsende Es-Welt, entwickelt sich ihm das eigene Ich, bis der Alp über ihm und das Gespenst in ihm einander das Geständnis ihrer Unerlöstheit zuraunen.“
Die Bremer Lenz-Inszenierung spielt in einem anatomischen Theater. Unter unseren sezierenden Blicken vollzieht sich das Geschick des Jakob Lenz, in unseren Ohren ist sein Schrei. Wir sehen das Leiden eines Menschen, der gehört werden will und verstanden und der auf Antwort wartet. Es ist nicht wenig, wenn eine Theateraufführung uns dazu bringt, wieder zu einem anredbaren und antwortenden Du zu werden und solcherart die entsetzliche Stimme der Stille, die um den ganzen Horizont schreit, zu durchbrechen und die Eiseskälte unserer Beziehungen aufzutauen.