Bruchstücke im Dialog
Im dritten Teil des in der Deutschen Bühne erschienenen Werkstattberichts zur Entstehung der Oper Ich bin Carmen beschreiben die beiden Komponisten Tobias Schwencke und Christopher Scheuer, wie sie das interkulturelle Thema des Projekts in eine musikalische Struktur überführt haben – und was sie auf die Idee mit den Schuhplattlern brachte.
Die Uraufführung am Theater Bremen wurde wegen Corona zunächst verschoben und findet jetzt am 19. November 2021 statt.
Die Melodien der Oper Carmen von Georges Bizet sind tief ins kollektive Gedächtnis der okzidentalen Welt eingebrannt. Habanera und Torero-Couplet sind auch einem mit der Klassik weniger vertrauten Publikum wohlbekannt, und vielfach begegnet man der Musik in Film und Fernsehen. Carmen ist zum Topos avanciert, prägnant und sofort erkennbar. Somit wird eine Neukomposition mit dem Material von Carmen immer „Musik über Musik“, immer Kommentar sein. Gleichzeitig kann man sich gut auf die Schwerkraft dieses Klassik-„Hits“, dieses Phänomens, verlassen: Wie ein Orgelpunkt begradigt sie alle noch so weitschweifenden stilistischen Ausflüge. Sie ist für uns auf musikalischer Ebene bereits ein idealer Ausgangspunkt für das Verweben mit der Biographie Hasti Molavians.
Hasti Molavian wächst im Iran auf und wird in Deutschland im klassischen Opernfach ausgebildet. An ihre Expertenschaft und an die Authentizität ihrer Erfahrung als Weltenwandlerin knüpfen wir gemeinsam als Kreativteam in einem kollaborativen kompositorischen Prozess an. So wurde zunächst der Carmen-Stoff gründlich auf seine Topoi hin befragt und mit biographischen Momenten Hasti Molavians korreliert. Wenn beispielsweise Don José und Micaëla von der Heimat singen, können diese Stellen im Kontext von Ich bin Carmen zur Stimme unserer Protagonistin als Exiliranerin werden, die über ihre Heimat reflektiert. So folgt aus diesem Verfahren des inhaltlich-szenischen Transfers auch die musikalische Form.
Das Herausbrechen einzelner Musiknummern aus dem „Steinbruch Carmen“ geschieht natürlich vor dem Hintergrund, die musikalische und inhaltliche Dramaturgie Bizets zugunsten des eigenen dramatischen Entwurfs hinter sich zu lassen. In diesem Sinne legen wir alle Fundstücke nebeneinander und beginnen, zu komponieren. Es bedeutet hier weniger, Einzeltöne sinnvoll aneinanderzureihen, sondern vielmehr versuchen wir, die Bruchstücke mit den ihnen innewohnenden Bedeutungen zu analysieren, ihre Wechselwirkungen zu erkennen und sie so sinnvoll neu anzuordnen – einzugreifen, zu verändern, anzupassen. Wir betrachten einzelne musikalische Phänomene aus Carmen, dem Iran oder Deutschland nicht als Museumsstücke, die möglichst unverfälscht lediglich nebeneinander betrachtet werden sollten, sondern als miteinander in Dialog tretende und dadurch sich verändern könnende Einheiten, genauso, wie in der Person der Protagonistin die Einflüsse der Kulturen ineinanderfließen müssen, um verarbeitet und in ihren Konflikten überwunden werden zu können.
Im Zuge dieses Vorgangs schöpfen wir aus Carmen mit ihrer exotisierenden Musiksprache – wie in der französischen Operntradition des 19. Jahrhunderts stark verankert – und kombinieren sie mit der reichhaltigen kulturellen Tradition Irans. Und da unser Projekt als zeitgenössischer (Meta-)Musiktheaterabend auf einer deutsche Bühne realisiert wird, müssen wir uns notwendigerweise mit der Gefahr der cultural appropriation, der (unrechtmäßigen, übergriffigen) kulturellen Aneignung, auseinandersetzen. Schon im zweiten Teil der Carmen-Ouvertüre, dem langsamen „Schicksals“-Thema, wird sechsmal eine übermäßige Sekunde melodisch weniger zitiert oder benutzt denn förmlich „ausgestellt“! Dieses „Zigeunermoll“-Klischee ist bereits eine artifizielle Aneignung von Volksmusikphänomenen aus Spanien und der Balkanregion; Regionen also, die jahrhundertelang unter orientalischem Einfluss standen. So liegt der Schluss nahe, dass sich hier orientalische und okzidentale Tonleitern vermischt haben, also ein cultural morphing bereits stattfand, noch bevor sich Bizet dessen „bedient“ hat!
SAMSTAG, 6.6.2020
Bielefeld, 16 Uhr, auf der Probebühne.
Ein rauschendes persisches Fest, eine Kindheitserinnerung. Parallele bei Bizet: „Chanson bohème“, ausgelassene Stimmung, Tanz, Handtrommeln, Tamburin etc. … Vom Klavier: „Chanson bohème“ in Loops, Patterns, die in sich und umeinander kreisen; Rundtanz, Derwisch. Ostinati und Ornamente, Heterophonie und Umspielung. Aus dem „Untergrund“ steigen zunächst elektronische Bässe herauf und später Beats, die sich mühelos in den Reigen fügen. Der Sound erinnert an den wilden, antiautoritären Stil orientalischer Underground-Beats. Schrille Saw-Leads, der Sound billiger Prozessoren, Umspielungsfiguren, die sich zu Glissandi verdichten. Ständige Beschleunigung/ Steigerung. Ekstase.
SONNTAG, 8.11.2020
Wien, Bremen, Mannheim, Berlin, 20–23 Uhr: Skype-Konferenz des Teams.
Diskussion über Videos des Pahlevani (traditionelles iranisches Wrestling) hinsichtlich visuell-performativer Aspekte und der Musik. Die Idee: Schuhplattler und Ländlermusik als Gegen-/Spiegelfläche zu benutzen. „Eine Gruppe Männer in traditioneller (Trachten-)Kleidung mit Lederhosen bildet mit rhythmischen Bewegungen zur Musik unterschiedliche Formationen.“ Christopher Scheuer unterlegt das Pahlevani-Video mit der Ländlermusik des Schuhplattlers und umgekehrt. Ländler (Bayern, Österreich): Überwiegend homophone Begleitungsstruktur bei eingängiger Melodie im 3/4-Takt; Hemiolenbildung in der Melodie; Schwerpunkt auf jedem Taktbeginn in der Begleitung bewirkt einen tänzerisch-wiegenden Rhythmus. Der Pahlevani wird musikalisch gestaltet von zwei Bechertrommeln (Zarb) und einstimmigem Gesang. Um das Idiom des Trommelklangs thematisch aufzunehmen, wird das Klavier mit Gummikeilen präpariert. Diese dämpfen den Klang und geben der Attacke mehr Perkussivität. Durch unterschiedliche Platzierungen der Keile auf der Länge der Saiten ergeben sich unterschiedliche Farbschattierungen. Der Komponist John Cage hat schon in den 1940er-Jahren damit experimentiert, um Ballettaufführungen zu begleiten.
SONNTAG, 6.12.2020
Wien, Bremen, Mannheim, Berlin, 20–23 Uhr: Skype-Konferenz des Teams.
Besprechung einer „Fata Morgana“-Sequenz mit dem Chor der Zigarettenmädchen aus dem ersten Akt. Grundsätzlich stehen in instrumental-analoger Form nur ein Klavier und eine Mezzosopranistin zur Verfügung. Mit dem Chor der Zigarettenarbeiterinnen soll eine surreale Traumatmosphäre entstehen sowie der ganze Chor und das Orchester im Sinne des Projekts abgebildet werden. Wie können eine Sängerin und ein Klavier mithilfe der Live-Elektronik hier einen Chor entstehen lassen, der die gewünschte Atmosphäre hervorbringt? Anders als noch vor einigen Jahren ist die Audiotechnik mittlerweile problemlos imstande, ein Audiosignal live zu transponieren – ohne dass die Aufnahme dadurch langsamer oder schneller würde (dieser Effekt ist jedem, der je mit Kassettenbändern gespielt hat, bekannt). Sie kann sogar die Formantbereiche der menschlichen Stimme erkennen und von der Transposition ausschließen, sodass Stimm- und Vokalklang im Wesentlichen erhalten bleiben. Im Falle des Chors der Zigarettenmädchen entsteht durch Transpositionsintervall und Zeitversatz (Signaldelay) ein choraler Kanon aus nur einer Stimme, ganz im Sinne der Vokalpolyphonie. Dennoch bleibt die generierte 2. Stimme eine reale Beantwortung der Hauptstimme und nicht, was nötig wäre, eine tonale, also in Bezug auf die harmonische Struktur melodisch angepasste. Wir entscheiden also, den harmonischen Rahmen zu verändern, und bringen die melodische Gestalt in eine Ganztonskala, die nun als Kanon in weicher Dissonanz in quasi impressionistischer Gestalt gut in die „Fata Morgana“-Stimmung der Szene passen wird. Gleichzeitig ist die Bizet’sche Melodie immer noch gut zu erkennen.
Im Hinblick auf den Einsatz der Live-Elektronik nehmen die Chorstellen des „Carmen“-Originals eine herausragende Stellung ein. Denn in ihnen, als Ausdruck vieler, artikulieren sich besonders deutlich Gesellschaftsbilder: etwa die geifernden Männerchöre, die frühmilitanten Gassenjungen oder der Hexenjagdruf der Zigarettenmädchen. Diese können nicht nur – von außen – durch Samples und Collagen zum szenischen Geschehen hinzutreten. Sie können, sozusagen als schöpferischer Akt von innen, durch elektronische Vervielfältigung der Solopartie, Manipulation oder Loopstation entstehen. Mittels Controllern und Sensoren steht die Steuerung dieser Prozesse der Solistin selbst zur Verfügung, sodass sie sich die Veränderung des Stimmklangs und der Sprache auch beim Hineinmorphen in andere Charaktere als neue Facetten ihrer selbst aneignen kann.
Auch das Controller-Design bezieht seine Inspiration aus der Mannigfaltigkeit des Materials. Im Bau befindet sich ein mit Gyroskop- und Flexsensoren ausgestatteter Handschuh, über den die elektronischen Klänge durch unsere Carmen gesteuert werden können. Dieser Handschuh steht zudem in der urpersischen Tradition der Falknerei, in der – wie in Bizets Carmen – das Vogel- und Freiheitsbild aufleuchtet. Der Handschuh vereint auf der Symbolebene Schutz, Verhüllung und Verwandlung. Indem die verbauten Sensoren elektronische Klangparameter steuern, ermöglichen sie das sprichwörtliche Verstellen, das Hineinschlüpfen etwa in den Brokat des Toreros.
Doch ebenso wie die Inszenierung behält sich die Musik eine suggestive Offenheit vor, um Imaginationsräume zu schaffen, in denen auch die eigenen Klischees aufleuchten. So steht auch die musikalische Struktur und ihr Verfahren mit Klischees nicht im Zeichen der Aneignung, sondern der Konstellation, Exploration, Überformung, Transformation, Mutation, Verschüttung, Überwindung. Mit dem Ziel einer zeitgenössischen Überschreibung, in der die Topoi Heimat und Fremde untersucht und einander vielfältig gegenübergestellt werden, bis sie schließlich als Stier und Torero in der Arena sich messen.
Unsere Autoren:
Tobias Schwencke, geboren 1974 in Berlin, bewegt sich als Komponist, Pianist und Arrangeur in den verschiedensten musikalischen Bereichen. Von Klassik bis Hip-Hop, neuer Musik bis Techno, barocken Madrigalen bis zu persischem Sprechgesang entdeckt er Verbindungen. Seine Tätigkeit führte ihn an Theater und Opernhäuser in ganz Europa, für die er Musiktheaterabende entwickelt, Livefilmmusik schreibt und Theaterproduktionen musikalisch leitet.
Christopher Johannes Scheuer, studierte Komposition und Musiktheorie in Mannheim und Mainz. Er komponierte Werke für Theater und Tanz sowie Beiträge für Festivals in ganz Deutschland. Im Zentrum stehen Arbeiten mit Live-Elektronik oder bewegungsgesteuerter Sensortechnik sowie multimediale Installationen. Sein akademisches Interesse gilt der Innenseite des Klangs und erstreckt sich über das klassische Repertoire hinaus bis zu zeitgenössischer Clubmusik. Er unterrichtet an verschiedenen Hochschulen in Deutschland.
Zur Februar-Ausgabe der Deutschen Bühne geht es hier.