Bach bleibt Bach

„Erbarmen“ heißt die Produktion von Alize Zandwijk, die von der „Matthäus-Passion“ inspiriert ist. Mit zum Ensemble, das aus Musiktheater und Schauspiel gemixt ist, gehört der Bass Christoph Heinrich. Dramaturgin Brigitte Heusinger hat mit ihm gesprochen.

Christoph Heinrich hat Bedenken. Und er hat eine Geschichte mit der Matthäus-Passion. Als Gesangsstudent in Leipzig, dem Hotspot der Bach´schen Passion, gab es kaum Berührung mit ihr. Schließlich wollte er keine Oratorien singen, sondern Opern. Dafür kam die Auseinandersetzung umso intensiver bei einer Tournee in der Partie des Jesus mit knapp 25 Konzerten durch Deutschland, Tschechien und Polen „Da habe ich die Matthäus-Passion inhaliert.“ Und sie ist ihm durchaus auch „auf die Nerven gegangen, vor allem die Länge“. Im Vergleich zu der Johannes-Passion sei die Matthäus-Passion nicht so theatral, nicht so knackig. Sie würde eher durch Schönheit punkten. Einige Nummern seien zugegebenermaßen Jahrhundertstücke: „Erbarme dich“, „Oh Haupt voll Blut und Wunden“, „Aus Liebe will ich sterben“.

„Wer da nicht weint, dem ist nicht zu helfen“.

Das berühre einfach jeden, völlig egal, ob man religiös sei oder nicht, egal, welcher Konfession man angehöre. Aber der generelle lamentöse Ton sei schon eigen: „Furchtbar lang gezogen in einer Tragik, mit der ich überhaupt nichts anfangen kann“. In einem sakralen Raum ginge das ja noch an. Die Musik in der Kirche wirke schließlich ganz anders als im Theater. Durch die räumliche Situation säßen die Menschen im Klang. „Die Musik wirkt direkter, gerade auch emotional direkter.“ Im Theater tritt dies in den Hintergrund und der martialische Text wird zentral. Und mit ihm die Hybris einer religiösen Botschaft, „die für unsere moderne aufgeklärte, digitalisierte westliche Welt nicht mehr passt. Ich würde sagen, Gott sei Dank.“

Christoph Heinrich steckt zu viel Lebensverneinung und Jenseitsvertröstung im Text.

Den Hintergrund zu ignorieren, also, dass Jesus für uns und unsere Sünden am Kreuz gestorben sei, hält er für problematisch. Besonders stößt ihm der Begriff der Sünde auf. „Schließlich werden wir schuldig jeden Tag.“ Aber Christoph Heinrich weigert sich, daran zu glauben, dass wir alle unter dem Verdacht der Erbsünde stehen würden, dass uns die Schuld automatisch mitgegeben sei. Zugegebenermaßen ist das alles nicht das eigentliche Thema des Abends „Erbarmen“. Was er gut findet, weil man sich verheben würde. Was er kritisiert, weil ihm die Auseinandersetzung mit dem Stoff nicht weit genug gehen kann.

„Heutzutage drehen wir im Theater alles auf links, untersuchen die Stoffe nach ihren historischen Voraussetzungen und ihren Auswirkungen auf das Hier und Heute.“

Das fordert er nicht nur von der Szene, sondern auch von der Musik. „Die Musik der Matthäus-Passion ist eine Art Manipulationsmaschine“, die jeden in einen meditativen, sentimentalen Sog ziehen würde. Auch hier müsse man aufbrechen, Irritationen einbauen. Gut sei, dass man in unserer Besetzung für Streichquartett, Klavier, Bass und Mandoline und durch ein gemischtes Ensemble aus Schauspieler:innen und Sänger:innen vom Originalklang entfernt sei. „Dass dann mal so ein Choral nur mit einer Mandoline begleitet wird und wie ein Kinderlied wirkt“, mag er sehr. Und er mag, wenn ein Chor in Stop-Motion gesungen wird und das strukturelle Gefüge zu zerbrechen drohe. All dies würde der Qualität der Musik keinen Abbruch tun.

„Bach bleibt Bach“.

Christoph Heinrich ist sehr bewusst, dass die Regisseurin Alize Zandwijk mit diesem Abend ein spezielles Anliegen verbindet. Sie möchte zeitgenössisch erzählen. Sie möchte nicht beglaubigen, sie möchte befragen. Für sie ist die Passion Christi ein Ausgangspunkt, eine Folie, um etwas über Unrecht, über Ungerechtigkeit, über Leid in unserer Welt und unserer Gesellschaft zu erzählen.  Und dies ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder überzeitliche Gültigkeit, sondern schlaglichtartig, fragmentarisch. Und so hat sie gemeinsam mit all ihren Darsteller:innen die biblischen, ikonographischen Bilder in Situationen übersetzt, die wir alle kennen und die sich vor unserer Haustür, im Wald am Stadtrand, in Büchern oder unserem Fernseher abspielen. Und sie möchte etwas darüber erzählen, wie  notwendig, wie wichtig das Miteinander ist, das Helfen, das Unterstützen.

Oder biblisch gefasst: Alize Zandwijk möchte etwas über Barmherzigkeit und Mitleid erzählen.

Das kann Christoph Heinrich voll und ganz akzeptieren. Wobei auch hier jetzt ein ziemlich richtiger, nachdenklicher Nachsatz kommt: „Mitleid ist durchaus ein schwieriges Wort.“ Mitgefühl sei für ihn das bessere Wort, weil es ohne die Anmaßung des aktiven Mit-Leidens auskäme. Und das sei schon wichtig: Gerade jetzt!

 

 

Veröffentlichung: 17.3.22