Das April-Editorial: Die Spielzeit 20/21
Michael Börgerding über unsere Spielpläne in Zeiten von Corona
„Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.“
Bertolt Brecht: Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens
Der April ist der Monat, in dem die deutschsprachigen Theater ihre Spielpläne der kommenden Spielzeit vorstellen. Auch wir hätten das getan, die Pressekonferenz war für den Freitag, den 24. April, geplant, am Sonntag darauf wollten wir ihn unseren Abonnentinnen und Abonnenten vorstellen. Die Endredaktion und Freigabe für das Spielzeitheft wäre in der letzten Märzwoche gewesen (vermutlich hätten wir diesen Termin, wie in jedem Jahr – weil immer noch etwas fehlt – auf die erste Aprilwoche verschoben und wir alle wären wieder etwas nervös geworden …). Jetzt ist alles anders und wir müssen schauen, wie wir für die unterschiedlichen Szenarien Pläne und Entscheidungen finden und kommunizieren. Wir haben ja noch nicht einmal einen Spielplan für den Mai, den wir veröffentlichen könnten, geschweige, dass wir wissen, dass wir da wieder spielen können.
Wir planen also im Augenblick für unterschiedliche Ausgangssituationen, für die unwahrscheinliche Wiederaufnahme des Spielbetriebes im Mai, für den Fall, dass wir erst im Juni wieder probieren können und für die Möglichkeit, dass alles erst nach dem Sommer weitergeht. Je nach Szenario stoppen wir geplante Produktionen, schieben sie, wenn möglich, in die nächste Spielzeit oder wir halten an Produktionen fest. Und dass alles in Absprachen mit den Teams, natürlich mit Rücksicht auf die gemachten Verträge und getroffenen Absprachen, mit Blick auf die Kapazitäten der Werkstätten, den Bühnenzeiten und – ganz sicher das Komplizierteste an einem Ensembletheater – im Austausch über die Besetzungen der einzelnen Produktionen. Was bedeutet eine Verschiebung einer Produktion für die Besetzung einer später beginnenden, aber schon besetzten Produktion? Wie und wann setzen wir Prioritäten?
Zum Stand der Dinge – auch Sie haben ja ein Recht zu wissen, was auf Sie zukommt, zukommen könnte, als Abonnentin, als Theaterfreund, als interessierte Theatergängerin – hier ein paar erste Informationen und Überlegungen:
Im Musiktheater haben wir bereits eine große Entscheidung getroffen. Vor zwei Wochen hätten wir mit den Proben zu Jenůfa von Leoš Janáček begonnen, die Sängerinnen und Sänger waren einstudiert, hatten ihre Partien mühsam auf Tschechisch einstudiert und das Bühnenbild war zu einem Drittel bereits fertig. Eine Verschiebung auf eine ungewisse Zukunft machte keinen Sinn, da zum einen Armin Petras, der Regisseur, im Anschluss andere Verpflichtungen hat, und zum anderen wir mit Teilen des Ensembles Vorproben für die nächste Spielzeit geplant haben. Wir verschieben Jenůfa auf den Anfang der Spielzeit 21/22, wir hatten für diesen Zeitraum eine Verabredung mit dem gleichen Team, also mit Yoel Gamzou und Armin Petras, und hatten uns noch nicht auf ein Stück festgelegt. Die Produktion Falstaff – Inszenierung Paul-Georg Dittrich, mit Marko Letonja am Pult, sein Debüt hier am Haus – konnten wir bis zur Orchesterhauptprobe fertig stellen, jetzt warten wir alle auf eine Probenfreigabe, um schnell zu einer Premiere möglichst noch in dieser Spielzeit zu kommen. Im Mai hatten wir eine Wiederaufnahme von L’elisir d’amore (Der Liebestrank) von Gaetano Donizetti geplant (und auch da war die zum Teil neue Besetzung schon einstudiert), diese Probentermine haben wir jetzt „reserviert“ für eine mögliche Premiere von Falstaff. Der Liebestrank wird also so oder so in dieser Spielzeit nicht mehr kommen (dafür vielleicht in der nächsten oder übernächsten Spielzeit). Weiter wollen wir im Mai und Juni zwei Produktionen für den Spielzeitbeginn vorprobieren, im Mai Imagine, ein John-Lennon-Liederabend von Yoel Gamzou für ein gemischtes Opern- und Schauspielensemble mit Band und den Bremer Philharmonikern, zum anderen Elektra von Richard Strauss als große Eröffnungspremiere der kommenden Spielzeit. Könnten wir erst im Juni wieder probieren, würden wir Falstaff auf die Imagine-Endproben verschieben und dort eine Juni-Premiere machen (und versuchen, trotzdem an diesem Lennon-Projekt festzuhalten – mit einer Premiere Ende Oktober, Regie führt im übrigen Tom Ryser). Und sollte es noch bis zum Sommer und darüber hinaus dauern, dann … ja mach nur einen Plan. So weit sind wir tatsächlich noch nicht, aber eines ist ganz sicher, dann wäre der geplante Saisonauftakt mit Elektra von Richard Strauss – Musikalische Leitung: Yoel Gamzou, Regie: Nadja Loschky –, Imagine und einer bereits konzipierten neuen Zauberflöte in der Regie von Michael Talke nicht zu halten (und damit kennen Sie nun den halben, ursprünglich konzipierten Spielplan der kommenden Spielzeit im Musiktheater).
Ganz ähnlich ließe sich das Schauspielprogramm durchdeklinieren. Wir mussten die Proben von Die heilige Johanna der Schlachthöfe in der Regie von Alize Zandwijk knappe drei Wochen vor der Premiere beenden, das fertige Bühnenbild stand an dem Tag gerade zum ersten Mal auf der Bühne. Wir haben Die Marquise von O. ... – Faster Pussycat! Kill! Kill!, eine Uraufführung der jungen Autorin Enis Maci nach zehn Probentagen ebenfalls stoppen müssen. Genau wie Schäfchen im Trockenen nach dem Roman von Anke Stelling, Regie Nina Mattenklotz, eine Arbeit im Brauhauskeller. Nach Ostern hätte Dušan David Pařízek mit den Proben zu Tschechows Drei Schwestern begonnen. Jetzt sitzt er fest in Prag – so wie Alize Zandwijk in Antwerpen, Elsa Jach, die Regisseurin von Pussycat, in Berlin und Nina Mattenklotz in Hamburg – und hofft auf ein Signal, wann es wieder losgehen könnte. Alle vier Produktionen wollen wir natürlich weiterhin machen und in allen vier Fällen werden die Lösungen spezifische sein. Schäfchen im Trockenen ist vermutlich die einfachste Aufgabe, wir brauchen nur eine gemeinsame freie Periode von Nina Mattenklotz und Karin Enzler, die den Monolog spielen wird, zu finden. Für die Johanna brauchen wir zwei Endprobenwochen, die werden wir finden, vielleicht noch im Mai oder im Juni. Möglicherweise eröffnen wir auch die kommende Spielzeit mit ihr. Bei Pussycat denken wir evtl. über eine Verschiebung in die neue Spielzeit nach, wir sind mit Elsa Jach in einer Verabredung für eine Produktion im Oktober, November und dass wir dafür ein geplantes Projekt in die übernächste Spielzeit verschieben. Und die Drei Schwestern? Dušan David Pařízek und wir möchten unbedingt daran festhalten (vor allem wegen der Besetzung der Schwestern mit Gabriele Möller-Lukasz, Irene Kleinschmidt und Verena Reichhardt!), Pařízek selbst hätte Zeit bis Mitte September (dann beginnt er in Bochum), wir prüfen aber auch schon den Zeitraum November bis Februar bei uns, während Pařízek mit einem Prager Theater über mögliche Optionen in diesem Zeitraum spricht.
Im Juni wollten wir beginnen mit den Proben für die ersten drei Schauspielpremieren (im Grunde vier – dazu gleich mehr) der kommenden Spielzeit.
Schon sehr lange sprechen wir mit Armin Petras über einen der ganz großen Romane des 20. Jahrhunderts, Leben und Schicksal von Wassili Grossmann, vielleicht so etwas wie Krieg und Frieden während des Zweiten Weltkrieges aus sowjetischer und jüdischer Sicht – und über die Möglichkeit, ihn auf die Bühne zu bringen. Petras hat im letzten Sommer als Auftrag eine Fassung geschrieben für ein zwölfköpfiges Ensemble, wir sprechen seit einem halben Jahr mit dem Staatstheater in Belgrad über eine Koproduktion und eine Besetzung gibt es auch schon. Die Premiere sollte sein, wird sein am 10. Oktober. Geplant hatten wir drei Wochen Vorproben im Juni/Juli, Petras hat uns versprochen, die Premiere auch zu halten, wenn wir erst nach den Theaterferien mit den Proben beginnen könnten.
Mutter Vater Land, das neue Stück von Akın Emanuel Şipal, hatten wir schon einmal verschieben müssen. Auch daran wollen wir unbedingt festhalten. Frank Abt wird es inszenieren, die Proben sollen Mitte Juni beginnen, die Premiere ist geplant für den 23. September im Kleinen Haus. Ebenfalls im Kleinen Haus sollte eine Übernahme aus den Münchner Kammerspielen Premiere haben, Felix Rothenhäusler beginnt Anfang Juni damit, seine dortige Erfolgsinszenierung Trüffel Trüffel Trüffel hier mit unserem Ensemble noch einmal neu zu erfinden. Und schließlich (die vierte Premiere zu Spielzeitbeginn): Wir wollten Woyzeck, unsere sieben Jahre alte Inszenierung von Klaus Schumacher, wiederaufnehmen (und damit sogar die Spielzeit eröffnen). Woyzeck ist Abiturstoff und wir haben die Besetzung (bis auf einen Spieler) noch zusammen und alle, wirklich alle, haben sich sehr auf dieses Wiedersehen gefreut: Simon Zigah als Woyzeck, Annemaaike Bakker als Marie, Musik von Tom Waits … Ich persönlich glaube allerdings nicht, dass wir dieses Vorhaben werden halten können. Wir werden die Bühnenzeiten wie die Werkstattzeiten brauchen für die Johanna oder Drei Schwestern. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt …
Auch im Tanz prüfen wir unterschiedliche Optionen. Hier hätte Futuralgia von Núria Guiu Sagarra am 16. Mai im Rahmen von TANZ Bremen 2020 Premiere haben sollen. Die Proben sind unterbrochen, das Team sitzt in Spanien im Ausgangsverbot und es spricht im Augenblick wenig dafür, dass das große Tanzfestival im Mai stattfinden wird. Und wir haben schon mal einen Zeitraum für TANZ Bremen 2021 ins Auge gefasst. Alexandra Morales und Gregor Runge, die künstlerische Leitung im Tanz, haben aber auch schon eine wichtige Verabredung verändern können. Eigentlich hätten wir die Spielzeit mit einer neuen Arbeit von Adrienn Hód, der Choreografin von Coexist, eröffnen wollen. Diese Koproduktion mit dem Compagnie von Adrienn Hód in Budapest, wird jetzt die dritte Premiere der Tanzsparte werden. So können wir da sicher planen. Samir Akika übernimmt die zweite Arbeit mit einer Premiere im Januar 2021. Und wir versuchen, Futuralgia zur Eröffnung der Tanzsaison im Oktober herauszubringen.
Es gibt aber auch Gewissheiten in diesen Zeiten. Eine davon ist eine Verfügung der Senatorin für Kinder und Bildung: „Alle Schulfahrten, Exkursionen, Tagesausflüge und Ähnliches, die bis zu den Sommerferien 2020 stattfinden sollten, sind abzusagen.“ Wir werden also definitiv keine Schulvorstellungen mehr spielen bis zu den Sommerferien. Rebecca Hohmann, die Leiterin des Moks, schrieb mir auf meine Nachfrage nach Der rote Baum, der geplanten Produktion von Hannah Biedermann für Kinder ab sechs Jahren (angekündigt für den 10. Mai) – „verschieben in die neue Spielzeit oder auf Halde produzieren?“ – die schöne Mail: „Das weiß ich auch noch nicht. Am liebsten auf Halde. Nächste Spielzeit ist bislang für Hannah schwierig. Es sei denn, es verschiebt sich auch noch etwas bei ihr. Wir haben schon mal den Herbst angedacht. Aber da hat sie eigentlich eine Produktion mit ihrem Kollektiv am Theater Freiburg. Es kann natürlich sein, dass Freiburg auch schiebt. Dann wäre noch die Frage nach ihrem Team … Wir überlegen auf jeden Fall hin und her. Die angedachte Produktion von Birgit Fame wird wohl auf jeden Fall in die übernächste Spielzeit verschoben. Parallel dazu ist Nathalie. Entweder rutscht an diese Stelle Hannah und Nathalie auch in die übernächste Spielzeit oder Nathalie macht eine große Produktion im Brauhaus. Soweit die Überlegungen.“
Sie sehen, es bleibt kompliziert und vieles ist im Augenblick Kaffeesatzleserei. Aber es hilft ja alles nichts, wir halten uns an das Diktum von Heiner Müller „Arbeiten und nicht verzweifeln!“ und prüfen alle Optionen. Hope the best expect the worst / The world’s a stage, we’re unrehearsed. Das Theater bleibt weiter vorerst für Sie geschlossen – es arbeiten weiter all die, die das Notwendige tun (in der Verwaltung, der Presse, dem Marketing, dem Künstlerischen Betriebsbüro) und das Notwendige planen (Wirtschaftsplan 20/21, den Spielplan …), zum Teil in sehr kleinen Teams im Theater, zum großen Teil im Homeoffice. Man sieht und bespricht sich bei Zoom. Nicht zu vergessen, all unsere Künstlerinnen und Künstler, die sich auf ihre kommenden Produktionen vorbereiten, unsere Homepage „bespielen“, für das virtuelle Festival Decamerone Globale° Texte einlesen, Rollen lernen, Stücke lesen, täglich ihren Körper trainieren oder ihre Stimme üben …
Und nicht zu vergessen unsere Kostümwerkstätten. Es gibt im Augenblick wichtigeres als Spielpläne. Auch in Bremen sind kaum noch Mund- und Nasenmasken zu bekommen. Das ist u. a. für Pflegepersonal eine sehr schwierige Situation. Daher haben wir in den Kostümwerkstätten den Betrieb wiederaufgenommen, um durch die Produktion von Masken zu helfen. Zwar können wir keine zertifizierten Masken zu medizinischen Zwecken fertigen, aber einfache Baumwollmasken, die im Alltag helfen.
Und vielleicht ist auch das eine Nachricht: Wir haben mit Rückendeckung der Politik beschlossen, allen künstlerischen Gästen, die von dieser Situation am härtesten getroffen sind, in Anerkennung ihrer bislang für das Theater geleisteten Arbeit vorerst bis zum 19. April und gegebenenfalls bis Ende April ihre Honorare für die ausgefallenen Vorstellungen komplett zu bezahlen.