Das Dezember-Editorial
„You don't know what you got, until you lose it“ – Michael Börgerding über die Herausforderung, ein nicht spielendes Theater zu leiten.
„Wir sehen uns im Dezember!“ – Das war unsere optimistische Losung, als der zweite, der sogenannte Teil-Lockdown verhängt wurde. Dem ist leider nicht so. Seit dem 2. Dezember wissen wir, dass der Lockdown Light verlängert ist bis zum 10. Januar – es ist also eingetreten, wovon wir ausgegangen waren, als wir beschlossen hatten, dass wir den ganzen Dezember, auch Weihnachten und Silvester, nicht spielen werden. Wir haben also die Einstellung unseres Spielbetriebs verlängert bis zum 10. Januar. Ob wir uns dann tatsächlich wiedersehen, weiß im Augenblick kein Mensch.
In dem Beschluss der Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 25. November 2020 liest man: „Beim weiteren Vorgehen ist zu beachten, dass das Infektionsschutzgesetz vorsieht, bei Beschränkungen des Betriebs von Kultureinrichtungen oder von Kulturveranstaltungen der Bedeutung der Kunstfreiheit Rechnung zu tragen.“ Das ist deutlich eine Korrektur der ersten Verordnungen, in der Theater, Museen und Konzertsäle unter Freizeiteinrichtungen wie Fitnessstudios oder auch Bordelle aufgeführt wurden. In der Sache wird diese Betonung der Kunstfreiheit nicht viel ändern. An anderer Stelle heißt es: „Um auf besondere regionale Situationen angemessen reagieren zu können, haben Länder bei einer Inzidenz von deutlich unter 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von 7 Tagen in sieben aufeinander folgenden Tagen und einer sinkenden Tendenz der Inzidenz die Möglichkeit, hiervon abzuweichen.“ Was vermutlich Mut machen sollte, stimmt angesichts der aktuellen Situation wenig zuversichtlich. Dass mit den beschlossenen Maßnahmen in absehbarer Zeit wieder eine Inzidenzzahl von unter 50 erreicht werden kann, ist schwer vorzustellen – angesichts der bevorstehenden Weihnachtseinkäufe und der Reisen in den Weihnachtsferien, der fröhlichen und nicht zu kontrollierenden Silvesterfeiern mit bis zu zehn Personen oder des alkoholbeschwingten Böllern „abseits belebter Plätze“ zum Jahresende.
Ob wir im neuen Jahr ab dem 11. Januar tatsächlich wieder spielen dürfen, das wissen wir vermutlich erst nach dem nächsten Treffen der Kanzlerin mit den Regierungschef*innen der Länder. Viele Theater gehen davon aus, dass sie da noch nicht wieder spielen werden und verkünden geschlossene Häuser für den ganzen Januar, zum Teil darüber hinaus. Wir hingegen planen weiter für den Januar und versuchen so bereit zu sein, dass wir auch schon Mitte Januar wieder eröffnen könnten – wenn wir denn dürften. Am liebsten mit einer Premiere von Ronja Räubertochter im Theater am Goetheplatz, einer Tanzpremiere im Kleinen Haus – die neue Arbeit von Samir Akika Mr. Sunshine – und einer Moks-Premiere im Brauhaus: Monsta, alles an einem Wochenende.
Angesichts der aktuellen Zahlen würde ich nicht darauf wetten wollen – aber was bleibt einem als Theatermensch. Arbeiten und nicht verzweifeln. Wir versuchen die große Protestpose zu vermeiden, nicht zu viel zu jammern und keine Schuldzuweisungen zu adressieren. „Mit dem Virus lässt sich einfach nicht verhandeln“, schrieb mir eine Zuschauerin, „es gibt keine wirklichen Schuldigen, in diesem Zusammenhang tat es gut, auch von einem Intendanten eine abgeklärte und sehr realistische Position zu hören, die nicht nur mit Vorwürfen (an wen eigentlich?) arbeitet.“ Auch solche Zuschriften tun gut.
Die Verlängerung des Lockdowns hat uns trotzdem zu ein paar Entscheidungen für die zweite Hälfte der Spielzeit gezwungen:
Wir versuchen, die im November und Anfang Dezember zu Ende probierte Schauspielproduktion Moby Dick oder Der Wal und die beiden Uraufführungen Wüst oder Die Marquise von O…. – Faster Pussycat! Kill! Kill! von Enis Maci und Mutter Vater Land von Akın Emanuel Şipal – gerade im Dezemberheft von Theater heute als Stück abgedruckt – ab Ende Januar, Anfang Februar im Kleinen Haus zur Premiere zu bringen. Die ebenfalls bereits fertig geprobte Zauberflöte wird hingegen keine Premiere im Januar haben. Wir verschieben die Premiere auf den späten Herbst 2021 als dritte Premiere im Musiktheater – und haben damit schon drei große Titel für die Musiktheatersaison 21/22 bzw. für das wiederaufgelegte Abonnement: Jenufa von Leoš Janáček (Musikalische Leitung Yoel Gamzou, Regie Armin Petras), Falstaff von Verdi (Marko Letonja, Paul Georg Dittrich) und eben Die Zauberflöte (Killian Farrell, Michael Talke).
Wegen der Wiederaufnahmen der gestoppten Schauspielproduktionen fangen die Proben zu Horvaths Karoline und Kasimir in der Regie von Alize Zandwijk drei Wochen später an. Die Premiere ist dann neu an Gründonnerstag, 1. April. Ebenfalls später beginnen die Proben zu der neuen Felix Rothenhäusler-Produktion Das Sterben der Arten (Arbeitstitel), die Premiere planen wir für Samstag, 27. März, evtl. wird es sogar der 10. April. Unser Hausregisseur Rothenhäusler muss im März noch in Stuttgart eine abgebrochene Opernproduktion zur Premiere bringen. Das Moks wird ebenfalls eine Produktion, nämlich C.L.I.C.K., in die nächste Spielzeit schieben und post paradise wäre damit die letzte Moks-Produktion in dieser Spielzeit.
Das Musiktheater hält vorerst weiter fest an den geplanten Produktionen Das schlaue Füchslein (Marco Letonja, Tatjana Gürbaca), Ariadne auf Naxos (Yoel Gamzou, Frank Hilbrich) und King Arthur (William Kelley, Schorsch Kamerun). Im Schauspiel kommt noch eine große Schauspielproduktion dazu: Tschechows Drei Schwestern in der Regie von Dušan David Pařízek. Vermutlich werden wir aber diese Arbeit im Juni nur bis zur Generalprobe probieren, die Premiere in den Spielzeitbeginn 21/22 legen, als zweite große Schauspielpremiere neben einer nachgeholten Johanna der Schlachthöfe (eine Inszenierung von Alize Zandwijk, die wir ja im ersten Lockdown abbrechen mussten). Und wir hoffen sehr, dass wir im Februar für all die, die diese wichtige und schöne Arbeit nicht haben sehen können, Vögel von Wajdi Mouawad wiederaufnehmen können.
Das waren jetzt sehr viele Informationen, ich hoffe, Sie haben bis hier durchgehalten. Und dass ich Sie nicht gelangweilt habe. Bisweilen hat man ja das Gefühl, dass man seit einem dreiviertel Jahr immer das Gleiche schreibt. Nichts Genaues weiß man nicht. Vielleicht aber haben Sie auch ein wenig Lust bekommen auf die Stücke, Inszenierungen, die wir für das neue Jahr planen. „You don't know what you got, until you lose it“ – eine Zeile aus einem Song von John Lennon, der mir im Augenblick nicht aus dem Kopf geht. Auch Imagine werden wir wieder für Sie spielen. Und auch wenn es bei nur 100 Zuschauer*innen bleiben würde – und 65 Musiker und Schauspielerinnen auf der Bühne stehen.
Wenn wir erst im Februar oder noch später wieder spielen dürften, werden wir neue Pläne machen müssen. Wir werden weiter auf diese magische Inzidenzzahl von 50 spekulieren, glauben nicht wirklich daran, planen neu und werden, sobald die Infektionslage es uns erlaubt, wieder für Sie da sein. Bis dahin bleibt uns der QR-Code auf dem Januar-Leporello, sprich unsere Homepage, die wir weiter digital bespielen werden. Und die Zuversicht, dass dieser Winter unseres Missvergnügens sich auflöst in einen glorreichen Sommer – durch die Sonne eines Impfstoffes.
Bis dahin trösten uns Briefe wie dieser, mit dem ich gerne mein Editorial beschließe (verbunden mit einem großen Dankeschön):
„Sehr geehrter Herr Börgerding, liebe Akteure auf, hinter, unter und vor der Bühne! Vielen Dank für die Grüße zum Advent, wir haben uns sehr darüber gefreut!
Ja, auch wir vermissen Sie alle und unsere Mitzuschauer. Die ältere Dame mit dem erinnerungsträchtigen Tosca-Duft, die beiden schnabbelnden Freundinnen, die erst nach fünf Minuten sich auf das Geschehen auf der Bühne konzentrieren können, das pfeifende Hörgerät des älteren Herrn und seine auf ihn einredende Nachbarin ...
Wir hätten nicht gedacht, dass das uns alles fehlt!
Vielmehr aber noch die durch das Ensemble uns gebotenen An- und Aufregungen. Inszenierungen, die unseren Erwartungen entsprechen, aber auch besonders denen, die uns nicht entsprechen, die positive, aber auch irritierende Gefühle und Ideen uns mit in den Alltag mitgeben!
Alles und noch vielmehr fehlt uns und vielen unseren Freunden! Bleiben Sie alle gesund und munter, regen Sie alle uns weiterhin an und auf, erfreuen Sie uns – und auch sich – mit Ihrer gesellschaftlich so notwendigen Arbeit!
Noch so gut gemachte Filme, Videos, CDs etc. können Sie alle nicht ersetzen! Eine Oper im heimatlichen Wohnzimmer im gemütlichen Sessel in Jeans und Pulli zu „genießen“, zwar mit einem guten Glas Rotwein, aber ... dann klingelt das Telefon und die Enkelkinder wollen nur ganz kurz ein Erlebnis aus der Schule erzählen ... nein, das ist es nicht!
Bis bald im Goethetheater! Frohe Weihnachten, einen guten Rutsch – ohne Walzer auf dem Goetheplatz (?) – und alles Gute!“
In diesem Sinne: Bis bald – hoffentlich bis bald!