Das Februar-Editorial

Zero Covid! Für einen solidarischen europäischen Shutdown: Michael Börgerding über die „solidarische Pause“ als Möglichkeit

Vielleicht – ein Gedanke, den ich zuletzt bei dem Virologen Hendrik Streek hörte –, vielleicht ist diese Pandemie, in der wir leben, tatsächlich die vierte Kränkung der Menschheit. „Kränkungen der Menschheit“ ist ein von Sigmund Freud gefundener und ausgeführter Begriff für umstürzende wissenschaftliche Entdeckungen, die das Selbstverständnis der Menschen in Form einer narzisstischen Kränkung in Frage gestellt haben: die kosmologische Kränkung (die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Weltalls), die biologische Kränkung (der Mensch stammt vom Affen ab) und die psychologische Kränkung (das Ich ist nicht Herr in seinem eigenen Haus). Jetzt also die vierte Kränkung: die virologische?

Wir alle warten und hoffen auf ein Ende des Lockdowns oder auf Lockerungen zumindest in den Bereichen, die uns direkt betreffen. Und dieses Warten und dieses Hoffen bestimmt ganz offenbar die Diskurse vor allem von uns Kulturschaffenden. Öffnet die Museen! Öffnet die Theater und Konzerthäuser! Wir wollen Theater spielen, für Sie Theater spielen – und neigen vielleicht dazu, narzisstisch gekränkt, zumindest als Künstler oder Künstlerin („wir sind nicht systemrelevant!“), die weltweite Naturkatastrophe, die Pandemie zu unterschätzen und so zu tun, als wenn wir schon irgendwie damit klarkommen werden, wenn man uns denn ließe. Die meisten aber von uns fügen sich, dem Schicksal oder den von uns als sinnvoll erachteten Maßnahmen und Verordnungen zum Schutz vor der Corona-Infektion.

Aber es gibt andere Stimmen, radikalere als der Common Sense. Ich meine nicht die Corona-Leugner*innen und Corona-Verharmloser*innen. Ich meine die Experten und Expertinnen, denen die Anti-Corona-Maßnahmen nicht radikal genug sind.

ZERO COVID ist eine Initiative und der Titel eines Aufrufes, der sich orientiert an einem internationalen Aufruf, den namhafte Wissenschaftler*innen am 19. Dezember 2020 geschrieben und veröffentlicht haben (Contain COVID 19). Die Autoren waren Viola Priesemann, Rudi Balling, Melanie M. Brinkmann, Sandra Ciesek, Thomas Czypionka, Isabella Eckerle, Giulia Giordano, Claudia Hanson, Zdenek Hel, Pirta Hotulainen, Peter Klimek, Armin Nassehi, Andreas Peichl, Matjaž Perc, Elena Petelos, Barbara Prainsack und Ewa Szczurek. Die Initiator*innen von ZERO COVID sind im Gegensatz oder eher in Ergänzung der Forderung der Wissenschaftler*innen von Contain COVID 19 davon überzeugt, dass die Eindämmung des Sars-CoV-2 Virus nur gelingen kann, wenn all die dort geforderten Maßnahmen gesellschaftlich solidarisch gestaltet werden. Um Pandemien dieses Ausmaßes erfolgreich zu verhindern, müssen wir ein solidarisches Miteinander wieder lernen.

 

Auf ein paar Schlagworte gekürzt, fordert ZERO COVID:

  1. Gemeinsam runter auf Null: Einschränkung unserer direkten Kontakte auf ein Minimum – und zwar auch am Arbeitsplatz, Schließung von Fabriken, Büros, Betrieben, Baustellen und Schulen, Aussetzung der Arbeitspflicht. Zitat: „Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine solidarische Pause von einigen Wochen.“
  2. Niemand darf zurückgelassen werden: gefordert wird ein umfassendes Rettungspaket für alle, Auflösung von Sammelunterkünften, dezentrale Unterbringung von geflüchteten Menschen, Unterricht online für Kinder, notfalls in Kleingruppen.
  3. Ausbau der sozialen Gesundheitsinfrastruktur: Ausbau des gesamten Gesundheits- und Pflegebereichs, Aufstockung des Personals in diesem Bereich, Anhebung der Löhne, Rücknahme bisheriger Privatisierungen und Schließungen.
  4. Impfstoffe sind globales Gemeingut: „Impfstoffe sollten der privaten Profiterzielung entzogen werden. Sie sind ein Ergebnis der kreativen Zusammenarbeit vieler Menschen, sie müssen der gesamten Menschheit gehören.“
  5. Solidarische Finanzierung: Einführung einer europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen.

 

Schaut man auf die Unterzeichner*innen – es sind, Stand 7. Februar, 15:45, 94.282 –, fällt mir zum einen auf, wenn ich die ersten ein-, zweihundert Namen lese, dass es vor allem Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Fachrichtungen und Menschen aus dem Gesundheitswesen sind, die unterzeichnet haben, und zum anderen: Ich finde fast keine Künstler oder Künstlerinnen – meine Kolleginnen und Kollegen, die so gerne und so oft gutmeinende Initiativen per Unterschrift unterzeichnen – und überhaupt nur einen Ökonomen: Professor Rudolf Hickel ist allerdings eine gewichtige Stimme, nicht nur in Bremen, noch immer aktiv in vielen nicht nur wirtschaftspolitischen Zusammenhängen, sondern unter anderem auch als Mitglied des Vorstandes der Theaterfreunde des Theater Bremen.

Ein Wirtschaftswissenschaftler fordert die Schließung von Fabriken und Büros? „Ganz schön radikal!“ schrieb dann auch DIE ZEIT in einem Interview mit ihm. Seine Antwort: „Der Ausgangspunkt ist ein Widerspruch. Wir haben Lockdowns in mehreren Wellen gemacht. Dabei hat der Staat insgesamt bisher einen guten Job gemacht, die Infektionszahlen gesenkt, der Wirtschaft schnell geholfen. Jetzt aber sind wir in der verzweifelten Situation, dass die Infektionsraten trotz eines harten Lockdowns nicht genügend sinken. Gleichzeitig droht eine neue, viel ansteckendere Virusvariante zu uns zu kommen. Ich sehe deshalb wenig andere Optionen als einen sehr viel härteren Lockdown. Mein Motiv ist auch persönliche Verzweiflung.“

Und was kostet das?
„Hickel: Im zweiten Quartal 2020 ist das Wachstum in Deutschland um fast 10 Prozent eingebrochen, weil damals auch die Industrie zugemacht hat. Danach hat sich die Wirtschaft wieder erholt. Wenn wir jetzt schärfer rangehen, könnte es einen noch stärkeren Einbruch geben. Die Frage ist: Lohnt sich der Einbruch, wenn wir damit die Infektionszahlen herunterbekommen? Wenn nach der Zwangspause die Pandemie massiv begrenzt wird, dann kommt es schneller und nachhaltiger zum wirtschaftlichen Aufschwung.
ZEIT: Sind Jobs und Gehälter dann nicht teils für immer weg?
Hickel: Dem kann man leicht vorbeugen. Wir verlängern das Kurzarbeitergeld, damit ist den meisten geholfen. Das ist nicht kompliziert – anders als die Entlohnung der Solo-Selbstständigen. Aber man muss natürlich gucken, wie man die Vorstände bezahlt. Millionengehälter vom Steuerzahler sind nicht angebracht.
ZEIT: Wer soll das alles bezahlen?
Hickel: Die Finanzierung ist nicht so entscheidend. Trotz eines Negativzinses sind Anleger auf der Flucht in den sicheren Hafen der Staatsanleihen. Und eine Inflation ist auch nicht in Sicht. Uns ist allerdings der soziale Ausgleich wichtig. Damit nicht einzelne Bevölkerungsgruppen die Lasten tragen.“

Am Ende des Gespräches die Frage „Wenn es hart auf hart kommt, ist fast alles systemrelevant. Kann man überhaupt sicherstellen, dass man nicht das Falsche schließt?“ Rudolf Hickels Antwort ist eine, mit der wir uns beschäftigen sollten: „Ich würde spontan nicht widersprechen, dass das eine Gefahr ist. Und eine Herausforderung. Aber wenn wir es nicht probieren, dann wursteln wir uns weiter durch wie bislang – und das macht das Land nicht nur sozial und ökonomisch, sondern auch moralisch kaputt. Also: Ich halte unseren Plan für machbar. Und es lohnt sich, ihn auf die Machbarkeit hin zu probieren.“

Ich will Sie nicht überzeugen – „Überzeugen ist unfruchtbar“, hat Walter Benjamin einmal geschrieben –, den Aufruf ZERO COVID zu unterzeichnen. Darum soll es hier nicht gehen. Aber ich denke, auch wir als Theatermenschen – wir, die wir Theater machen, und wir und Sie, die wir das Theater lieben –, sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass es im Augenblick größere Fragestellungen gibt als die Frage, wann wir wieder die Häuser öffnen. Die Gesellschaft könnte, „wir“ könnten wieder lernen, dass nur das soziale Miteinander und das Aufeinander-Angewiesen-Sein eine Chance bietet gegen die Pandemie. Eine Erkenntnis, die, wieder Hickel, der Ego-Rausch der letzten Jahre vernebelt und kaum zugelassen hat. Es geht jetzt, wie er schreibt, „um einen solidarisch-emanzipatorischen aufgeklärten Individualismus.“ Der Aufruf ZERO COVID ist dabei eine wichtige „agitatorisch-populistische“ Vision eines solidarischen und europäischen Umgangs mit dieser lebensbedrohenden Pandemie.

Den letzten Satz meines Editorials überlasse ich daher gerne mit einem Hinweis auf seine ausführlichen Antworten auf Fragen zum temporären Lockdown in der Produktionswirtschaft Rudolf Hickel: „Aber erlauben Sie uns doch etwas didaktische Radikalität!“