Das Februar-Editorial: Immer weiter gehen!

Michael Börgerding über Monika Gintersdorfer und ihren Weg

Seit über 15 Jahren macht sie jetzt „freies Theater“, die Regisseurin Monika Gintersdorfer. 2005 gründete sie damals noch in Hamburg mit dem Bildenden Künstler Knut Klaßen die Performance Gruppe oder das Künstlerkollektiv Gintersdorfer/Klaßen, der ivorische Tänzer, Sänger und Choreograph Franck Edmond Yao war von Anfang an dabei, genau wie Gotta Depri und der wunderbare Hauke Heumann. Andere Künstler*innen kamen dazu, über die Jahre entstand eine Theaterfamilie aus deutschen, französischen und afrikanischen Performer*innen, Tänzer*innen, Aktivist*innen, Musiker*innen. Ein Zusammenhang, der im deutschen Theater einzigartig ist. Zu Hause ist in Berlin, in Hamburg, in Paris, in Abidjan und seit acht Jahren auch in Bremen. Wobei zu Hause ein merkwürdiger Begriff ist für jemanden, der eigentlich immer auf Reisen ist. Seit 15 Jahren arbeitet sie also frei, stellt sie Förderanträge, schreibt sie Konzepte, erstellt sie Verträge und Abrechnungen, bemüht sie sich um Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, organisiert sie Flugreisen, sucht und findet sie Partner*innen und Spielstätten – und das alles ohne Absicherung, Urlaub und Krankmeldung. Autonomie, Selbstermächtigung, Boheme, Neugierde, Abenteuer, Glück und Glanz, aber auch Existenzsorgen und Erschöpfungen. Man fragt sich oder ich frage mich manchmal, wenn Monika müde bei mir im Büro sitzt, wie lange das so gehen kann. Ganz offenbar aber stellt sich ihr diese Frage nicht – zu viele Ideen, zu viele Arbeitszusammenhänge, zu viele Künstlerfreund*innen, zu viele Projekte und Begegnungen. Monika ist viel zu neugierig, um sich jetzt irgendwo fest zu setzen.

Dabei hatte alles ganz seriös angefangen: Monika Gintersdorfer studierte Germanistik und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Köln und anschließend Regie in Hamburg. Sie wurde Regieassistentin am Hamburger Schauspielhaus unter Frank Baumbauer, der sie auch an die Münchner Kammerspiele mitnahm und dort machte sie erste eigene Regiearbeiten. 2001 erhielt sie für ihre Regie bei Bedbound den Gertrud-Eysoldt-Ring. Die Deutschen Theater wurden auf sie aufmerksam. Damals habe ich sie kennengelernt, 2002 muss das gewesen sein, wir engagierten sie für ein Auftragsstück am Thalia in der Gaußstraße, eine Uraufführung von Ulrike Syha, Autofahren in Deutschland hieß es und sie kämpfte mit dem Stück, mit dem Bühnenbild und sie kämpfte mit einem Ensemble, das die junge Regisseurin spüren ließ, dass sie weder das Stück noch die Konzeption toll fanden und lieber Bedeutenderes und Größeres zu spielen wünschten. Immerhin waren es Peter Kurth und Susanne Wolff, die wir damals besetzt hatten, großartige Schauspieler*innen, aber natürlich nicht unkompliziert. Kurz zusammengefasst: Stadttheater, wie man es sich selber nicht wünscht, das man vor allem keiner jungen Regisseurin wünscht. Im Nachhinein aber war es vielleicht (im Grunde haben wir nie darüber gesprochen) diese Arbeit, die Monika Gintersdorfer vom Stadttheater erlöst hat. Vom Stück hat man im Übrigen nie wieder etwas gehört, von Frau Gintersdorfer sehr wohl. Monika erfand sich danach ganz neu.

Sie begann mit lokalen Projekten in Hamburg, verwendete nicht mehr die Texte anderer und  gründete gemeinsam mit Jochen Dehn die Hamburger Performancegruppe Rekolonisation, eine informelle Gruppe von Darsteller*innen, Freund*innen und sogar Nachbar*innen. Zusammen kreierten sie spontane Straßenaktionen voller Humor und mit einem Schuss Anarchie, sowie den Kurzfilm Ausziehen, in dem Gintersdorfer und Dehn eine Wohnung nur mit ihrem Körper, einer Bratpfanne und einem Küchenmesser demolieren. Dieser Film wurde zu Dutzenden von Festivals eingeladen. „Mit Rekolonisation versuchten wir, eine schnelle Arbeitsweise zu finden. Wir wollten keine Zeit darauf verwenden, ein Manuskript zu suchen, Geld aufzutreiben und Proben abzuhalten. Wir wollten an einem einzigen Tag von der Idee zur Darstellung kommen. Wir wollten rau, hart und schnell sein. Manchmal bemühten wir uns noch nicht einmal um ein Publikum.“

Kurz danach begann dann ihre seitdem regelmäßige Zusammenarbeit mit Knut Klaßen und Franck Edmond Yao. Die Produktionen des Künstlerkollektivs Gintersdorfer/Klaßen liefen anfangs an der Volksbühne im Prater Berlin, auf Kampnagel, am FFT Düsseldorf oder den Sophiensaelen in Berlin. 2008 gab es dann den Durchbruch: Othello c'est qui hatte Premiere auf Kampnagel und ging anschließend auf Reisen durch Deutschland und Europa. Seitdem touren sie mit den unterschiedlichsten Aufführungen durch die ganze Welt. Dazwischen immer wieder Kooperationen mit Stadttheatern wie in Aachen, Köln, Bochum oder dem Deutschen Theater in Berlin. Viele weitere Spielorte in Afrika, Europa und Australien kommen dazu, berühmte Spielstätten und Koproduzenten wie das KVS Brüssel, Frascati Amsterdam, die Rotterdamse Schouwbourg, das Theater Maria Matos Lissabon oder das WUK Wien.

In den Spielzeiten 12/13 und 13/14 waren Gintersdorfer/Klaßen im Rahmen von Doppelpass Artists in Residence am Theater Bremen. Während dieser Zeit entstanden die Arbeiten Der internationale Strafgerichtshof, Weiße Magie, Not Punk, Pololo und als vorläufiger Abschluss das Festival Sorbonne Noire. Eine Inszenierung hieß Das 2. Bremer Konzil und es ging tatsächlich um das 2. Vatikanische Konzil in Rom, theologisch gut beraten folgte er der Struktur einer katholischen Messe und füllte sie mit neuen Inhalten und Formen, die verschiedenen religiösen Praktiken angehörten. Monika Gintersdorfer erinnert sich: „Auch wenn den Abend nur wenige Leute gesehen haben, gehört er zu meinen Favourites. Nonnen aus Indien und Lateinamerika, die vom Vatikan nach Bremen geschickt worden sind, kamen in die Aufführung und wollten anschließend mehr über animistische Praktiken erfahren, sie waren sensibel und offen für ästhetische Darstellungsweisen, es war ein Austausch von hoher Kenntnis.“

In der Spielzeit 14/15 folgte in Zusammenarbeit mit Benedikt von Peter die Oper Les robots ne connaissent pas le blues oder Die Entführung aus dem Serail. Die Bremer Philharmoniker unter der Leitung von Markus Poschner spielten auf der Bühne, die Stühle im Saal waren rausgeräumt, das Publikum wanderte vom Saal auf die Bühne und zurück, während Franck, Gotta, SKelly, Hauke und Ted Gaier zusammen mit Nicole Chevalier, Hyojong Kim, Nerita Pokvytyte und  Patrick Zielke der Frage nachgingen, was an dieser Oper eigentlich kolonialistisch ist, was das mit Menschen, die aus Afrika oder Korea oder Litauen oder den USA kommen, macht. Und wie das klingt und welchen Rhythmus es hat. Und warum Roboter vom Blues nichts verstehen.

Mit allen Bremer Produktionen gingen sie dann auf Tour, mit der Mozart-Oper waren wir sogar bei den Wiener Festwochen zu sehen. 2016 begann bei uns dann eine kleine Reihe mit Auseinandersetzungen mit großen deutschen Klassikern, getanzte und performte Kommentare und Stückerläuterungen, deutsche, französische und afrikanische Blicke auf europäische Themen. Im Grunde ein eigenes neues Genre. Dantons Tod war der erste Abend, es folgte mit großem Erfolg Nathan der Weise, ein Weichmacher für den Glaubenspanzer nach Gotthold Ephraim Lessing und seit dieser Woche sind wir im Wort für eine dritte Arbeit mit diesem Format: Im Januar 2021 wird man im Kleinen Haus ihre Auseinandersetzung mit Büchners Woyzeck sehen können.

Mit ihrer gemeinsam mit Franck Edmond Yao 2016 neu gegründeten Pariser Gruppe LA FLEUR kommt Monika Gintersdorfer erneut für zwei Jahre in den Genuss der Doppelpass-Förderung der Kulturstiftung des Bundes und wir mit ihr ebenfalls. Im Herbst 2018 war bereits das Gastspiel Die selbsternannte Aristokratie nach Balzac zu sehen und mit Nana ou est-ce que tu connais le bara? entstand eine gemeinsame Produktion von LA FLEUR, dem Pariser Theater MC93 und dem Theater Bremen, probiert wurde damals in Paris. Und jetzt kommt im Februar „Nana 2“: Nana kriegt keine Pocken heißt der Titel und bedeutet übersetzt, dass heute Frauen nicht mehr sterben müssen wie noch bei Zola, nur weil sie ein selbstbestimmtes, ein auch sexuell selbstbestimmtes Leben führen wollen. Diesmal probiert die junge Truppe also hier bei uns, die Premiere ist am 20. Februar im Kleinen Haus und wir zeigen sie dreimal, bevor es wieder nach Paris geht. Mit dabei sind Annick Choco, Dalel Bacre, Arturo Domínguez Lugo, Carlos Gabriel Martinez, Elisabeth Tambwe, Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star, Alexander Cephus, Pohe Cedric Kevin Bah alias ORDINATEUR gemeinsam mit unseren Ensemblemitgliedern Justus Ritter und Matthieu Svetchine. Die Themen von Monika Gintersdorfer haben sich verschoben, sind noch einmal weiter, offener geworden: es geht um Begehrensstrukturen und Genderfragen, politische Diskurse und soziale Kämpfe. LA FLEUR hat, wie sie selber schreibt, „in diesen Fragen keine einheitliche Position, gerade im Bereich Sexualität ‚wimmelt’ es von delirierenden gegenseitigen Zuschreibungen.“ Diesem „Wimmeln“ zuzuschauen macht vor allem eines: großen Spaß. Dass man anschließend auch ein bisschen klüger über Männer und Frauen, Hautfarben und Milieus nachdenkt, kommt quasi ohne Anstrengung dazu.

Zusammenhalten tut das alles Monika Gintersdorfer mit ihrer wahnsinnigen Energie und mit ihrer Fürsorge für alle, die dabei sind. Dass sie sich ein wenig zu Hause fühlt in Bremen, dass die ganze Truppe sich wohl fühlt an diesem Haus und hier gerne arbeitet, macht mich froh und auch ein wenig stolz als Stadttheaterintendant. Ich freue mich sehr auf unsere Premiere in Bremen, auf die Premiere in Paris, auf den Woyzeck in der nächsten Spielzeit und auf ein schon vereinbartes Projekt in 21/22. Weiter können wir nicht zusammen planen. Schön für uns alle, dass Monika einfach immer weiter geht.