Das große Sterben
Wie Naturbetrachtung uns etwas über unser ökologisches Selbst erzählt. Gedankenexperiment zum Sterben der Bienen in vier Schritten von Dramaturgin Theresa Schlesinger.
Sterben 1.0: Einsamkeit
Eine Honigbiene kann alleine nicht überleben. Entfernt sie sich aus Versehen zu weit von ihren Genossinnen, wird sie nach kurzer Zeit allein draußen in der Natur sterben. Sie geht quasi ein. Warum ist das so? Alleine zu leben ist für die Honigbiene keine Option. Erst in der Gemeinschaft entwickelt sie ihre Intelligenz und wird plastisch und wandlungsfähig. Sie ist ein Teil eines viel größeren Wesens, das aber schwer zu erfassen ist, denn es hat keinen einheitlichen physischen Körper. Es ist das Bienenvolk: der „Bien“ – ein sozialer Superorganismus. Was ist ein Superorganismus? Der Begriff bezeichnet eine Vielzahl von Einzelorganismen, die voneinander abhängig sind und insgesamt eine selbstregulierende Einheit bilden. So bezieht sich die Bezeichnung zum Beispiel auf hochgradige Verflechtungen von Interaktionen und Abhängigkeiten bei staatenbildenden Insekten wie Bienen und Ameisen. Wir sprechen hier auch von einer Form der Schwarmintelligenz, da sich kein individuelles Wissen erfassen lässt, sondern die Kommunikation der einzelnen nur dem Überleben des Ganzen dient. Die Intelligenz dieses Organismus unterscheidet sich von unserer herkömmlichen Definition von Intelligenz, die sich vor allem am Menschen orientiert und als abgrenzende, gewinnorientierte Instanz wahrgenommen wird. Andere Formen von Intelligenz außerhalb der menschlichen wahrzunehmen, „heißt, dass wir nicht nur unsere Vorstellung von Intelligenz, sondern auch unsere Vorstellung von der gesamten Welt neu austarieren müssen“, wie es der Künstler und Autor James Bridle in seinem Werk Die unfassbare Vielfalt des Seins (2022) ausdrückt. Betrachten wir also, wie der Superogranismus Honigbiene lebt und stirbt, verschiebt sich womöglich unser eigenes Verhältnis zum Tod – und damit vielleicht auch zu unserem ökologischen Selbst. Wie auch die Biene in Wechselbeziehung lebt, müssen auch wir unsere Position innerhalb unserer Umwelt anders begreifen. Wie der schottisch-amerikanische Naturforscher John Muir bereits 1911 in seinem Buch My First Summer in the Sierra schreibt: „Wenn wir versuchen, irgendetwas für sich allein zu betrachten, stellen wir fest, dass es mit allem anderen im Universum verflochten ist.“ Wir sind also in diesem Sinne ökologische Lebewesen, als dass wir genau wie die Biene mit der Blume auch in Wechselbeziehungen zu unserer Umwelt stehen. Auch der Mensch ist allein nicht überlebensfähig. Unser Leben und unser Sterben sind unweigerlich verflochten mit dem, was uns umgibt. Betrachten wir es also etwas genauer.
Sterben 2.0: Zeit
Im Schnitt lebt eine Honigbiene im Sommer bis zu 35 Tage. Drohnen leben den Sommer über und werden rund 50 Tage alt. Eine Winterbiene, die das Volk durch die kalte Jahreszeit bringen soll, kann bis zu neun Monate alt werden. Am ältesten wird die Bienenkönigin: Sie lebt bis zu 5 Jahre. Und ein Bienenvolk? Ein Bienenvolk lebt so lange wie seine Königin, kann sich jedoch durch den Akt des Schwärmens auch teilen und eine neue Königin heranzüchten. So bleibt es über Jahre bestehen, auch wenn alle paar Wochen einzelne Bienen sterben und andere schlüpfen. Der Tod des Individuums spielt für den Superorganismus nur insofern eine Rolle, als dass eben gestorben werden muss, damit der Organismus weiterlebt. Ein steter Prozess der Erneuerung und Transformation durchzieht so das Wesen des Bienenvolks. Was heißt das für die Wahrnehmung von Zeit, wenn das einzelne Leben kurz, das des Superorganismus jedoch im Verhältnis dazu scheinbar endlos lang ist? Sich einer anderen Form von Zeitlichkeit auszusetzen wirft uns zurück auf unsere Menschlichkeit. Wir messen unser Leben in Jahren, blicken wir aber im Verhältnis zu nicht-menschlichen Instanzen darauf, wird auf einmal ganz kurz, was uns sonst ewig lang erscheint. Was ist ein Tag für eine Biene? Was ist ein Tag für einen Baum? Was ein Jahr und was ein Jahrhundert? Wie lange ist ein Leben und woran wird es gemessen? Die Menschen haben sich die Honigbiene zu ihrem Nutztier herangezüchtet, doch es zeigt sich, dass die Biene auch ohne die Menschen ganz gut ausgekommen ist. Die ersten Honigbienen fand man in 50 Millionen Jahre altem Bernstein aus dem oberen Eozän und somit existiert diese Art deutlich länger als der Mensch. Es gab also eine Zeit ohne Menschen, in der bereits Bienen herumschwirrten. Und so wird es vielleicht auch wieder eine Zeit geben ohne uns, aber mit Bienen und Bäumen und Blumen, die unberührt weiter existieren.
Sterben 3.0.: Biene-Mensch
In der Begegnung mit dem Menschen liegt für die Biene immer wieder der Tod. Der Stich ist für sie ein Verteidigungsmechanismus und wird nur im äußersten Notfall angewandt, denn er endet für die Biene tödlich. Der Stachel von Honigbienen ist mit kleinen Widerhaken ausgestattet, die bei Kontakt mit der menschlichen Haut steckenbleiben. Beim Versuch, sich zu befreien, verbleibt der komplette Stechapparat der Arbeiterbiene fast immer in der Haut und zieht den kompletten Hinterleib mit sich. Anschließend wird die gesamte Giftmenge in die Einstichstelle abgegeben. Durch den Verlust des Körperteiles stirbt die Honigbiene in der Regel nach wenigen Tagen. In diesem Sinne ist die intensive und nahe Begegnung mit einem Menschen für die individuelle Arbeiterin hochgefährlich. Nähe und Sterben verbindet hier ein hauchdünnes Netz, das gespannt ist zwischen dem Moment der Begegnung und dem Moment, in dem die Biene das menschliche Individuum als Gefahr einordnet und sticht. Gleichzeitig bleibt auch der Moment des Stichs für den gestochenen Menschen in der Erinnerung und wird durch den verursachten Schmerz nach und nach zu einer sich festsetzenden allgemeinen Behauptung: Die Biene ist eine Gefahr, denn sie sticht. Somit dreht sich das Verhältnis um und wir haben es im Grunde genommen mit einem riesigen Missverständnis zu tun. Würden wir uns doch nur friedlich begegnen, müsste vielleicht niemand sterben?
Es wird im Bienenreich also aus verschiedenen Gründen gestorben: Aus Einsamkeit, ganz natürlich mit dem Verlauf der Zeit und schließlich im Akt der (Selbst)Verteidigung. Wir können feststellen, dass aber der Tod einer einzelnen Honigbiene dem Leben des Superorganismus nicht viel anhaben kann. Doch wie steht es in Zeiten des Artensterbens um ihre Art? Auch wenn die Honigbiene als Nutztier des Menschen nicht vom Aussterben bedroht ist, sind zum Beispiel viele der Wildbienen-Arten mittlerweile auf der Roten Liste der bedrohten Arten und damit im Verschwinden begriffen. Dieser Schwund an Biodiversität wird maßgeblich durch die Veränderungen in unserer Landschaft begründet und befeuert, die mit Monokulturen, dem Ausbau von Großstädten und dem Schwund von Grünflächen immer weiter voranschreiten. Stirbt eine Art, stirbt ihre Sicht auf die Welt. Der menschliche Einfluss auf die Umwelt führt damit letztendlich zu einem Schwund an Perspektiven auf die Welt. Somit ist der Schritt hin zu einer Erzählung, die sich einer nicht-menschlichen Perspektive nähert, auch der Versuch, diesem Verlust entgegen zu wirken und gleichzeitig die menschliche Hoheit aktiv zu hinterfragen.
Sterben 4.0: Sterben auf der Bühne
Was heißt es in einem Zeitalter des globalen Artensterbens zu leben? Wie begegnen wir dem überdimensionalen Sterben, das uns umgibt? Der Blick auf das Sterben der Biene ist ein Gedankenexperiment. Wie fühlt sich Sterben und Trauern an, wenn es nicht mehr den Parametern entspricht, die wir kennen? Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing sieht in der Erzählung von umweltlichem Kollaps die Chance auf eine neue Art der Sensibilisierung und Öffnung hin zu unserer Umwelt. Wir machen das Große Sterben zum Thema der Erzählung, ohne aber außer Acht zu lassen, dass es nicht allein darum geht darüber zu berichten, sondern die Perspektive darauf zu verändern und diese erfahrbar zu machen. Das Spiel mit der Veränderung der Erzählung ist gleichzeitig spielerisch und ernst gemeint: Über Vergänglichkeit erzählen, heißt vielleicht, den Moment der vergeht oder vergangen ist, zu erzählen. Theater als Ort der Vergänglichkeit, wo alles, was auf einer Bühne passiert, schon im Vergehen begriffen ist, weil es ja nur einmalig in genau diesem Setting in genau diesem Zusammentreffen von Menschen im Publikum und auf der Bühne stattfinden wird, eignet sich also hervorragend als Raum der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem (mehr-als-menschlichen) Sterben. Der Begriff „Immersion“ beschreibt einen Zustand, in dem man sich völlig auf etwas einlässt. Das Erleben von Kunst, das Eintauchen in eine Geschichte beim Lesen eines Buches, der Besuch eines Theaterstücks oder das Ansehen eines Films können uns in diese Art von Zustand versetzen. Indem wir völlig eintauchen, können wir auch unseren denkenden Verstand verlassen und uns tiefer mit einer imaginären Welt, einer Geschichte, einer anderen Erzählung verbinden. Es bietet einen Perspektivenwechsel, weil wir nicht nur mit unseren Gedanken, sondern mit unserem ganzen Körper, emotional und physisch, gefordert sind. Wir müssen uns neu orientieren, nachdem wir destabilisiert wurden. Und das tun wir am besten gemeinsam.
Veröffentlicht am 19. April 2023