Das individuelle Kollektiv
Brigitte Heusinger interviewt den Opernchor zum Singen, zur Gemeinschaft und zu Pannen.
In diesem Interview kamen fünf Sänger*innen aus dem Chor des Theater Bremen zusammen, die schon lange Teil dieses Kollektives sind und deshalb viel zu erzählen haben: Ute Korthen, Gabriele Wunderer, Adelheid Zetsche, Yosuke Kodama und Allan Parkes – alle mit ihren eigenen Geschichten, wie und wann sie nach Bremen in den Chor gekommen sind. Sie plaudern, sprechen über die Arbeit im und mit dem Chor, über die Chordirektorin Alice Meregaglia und über das bald anstehende Chorkonzert: Weihnachtsliederreise. Auch die ein oder andere Anekdote fehlt da nicht.
Brigitte Heusinger: Wann und wie seid ihr in den Bremer Opernchor gekommen?
Ute Korthen: Ich habe in Mainz Solo- und Chorgesang studiert und mich dann für die Chorlaufbahn entschieden – seit 34 Jahren bin ich hier, und damit die Dienstälteste.
Yosuke Kodama: Ich bin fast schon zwanzig Jahre im Bremer Opernchor. Davor habe ich als Gastsolist am Theater Osnabrück gearbeitet und war dann drei Jahre dort im Opernchor. 2000 bin ich nach Bremen gekommen, weil ich in einem größeren Chor singen wollte.
Adelheid Zetsche: Ich wollte von Anfang an in einen Opernchor. Meine Eltern waren begeistert von der Oper, bei uns waren immer Sänger*innen zu Besuch. Ich habe Geige gespielt, bin dann in einem Chor gelandet und kam zufällig auch ans Theater Osnabrück, in den Extrachor. Da stand ich zum ersten Mal auf der Bühne, und es schlug ein. Von da an wollte ich nur noch singen. Und das hab ich auch – ich bin jetzt in meiner 37. Spielzeit: 34 davon in Bremen, drei davor in Gelsenkirchen.
Allan Parkes: Ich komme aus Nordirland, habe seit der Schule im Chor gesungen und in Ensembles musiziert, anschließend Musik, Gesang, Geschichte und Komposition studiert. Ich hatte auch einen Nebenjob als Chorsänger in einem Dom, wo man während des Gottesdienstes singt. Nach dem Studium wollte ich unbedingt in der Musikbranche arbeiten. In London gab es viel Arbeit für freiberufliche, professionelle Sänger*innen, auch für mich: bei den BBC-Singers beispielsweise. Danach habe ich im Opernhaus Glyndebourne eine Stelle im Chor bekommen, das ist ähnlich wie Bayreuth ein Sommerfestspielhaus. Da hat man wenig Planungssicherheit. Ein Freund hat mir dann empfohlen, nach Deutschland zu gehen. Das habe ich auch gemacht: Zuerst war ich ein Jahr in Heidelberg und seit 1996 nun im Opernchor vom Theater Bremen.
Gabriele Wunderer: Vor etwa 15 Jahren war ich als Krankheitsvertretung im Chor angestellt und habe mich sofort in dieses Ensemble und in die Stadt verliebt. Ich wäre sehr gern geblieben, aber die Stelle war nun einmal befristet. Ich wurde immer mal wieder als Gast engagiert und bin später mit meinem Mann ganz nach Bremen gezogen, weil wir es hier mochten. Und plötzlich wurde im Chor eine Stelle frei; ich bin überaus glücklich, die bekommen zu haben. Jetzt bin ich genau auf der Position, auf der ich damals gern geblieben wäre.
Brigitte Heusinger: Was heißt es, Teil eines Chores zu sein?
Gabriele Wunderer: Es heißt, dass man nicht alleine singen muss.
Ute Korthen: Man vereint zwei Dinge miteinander: Einerseits ist man ein Rädchen in einer Gruppe, der man sich auch anpassen muss, andererseits immer noch ein Individuum. Das auszubalancieren ist dann die Aufgabe des*der Chordirektor*in und gar nicht so einfach.
Gabriele Wunderer: Vor allem, weil man im Kollektiv angesprochen wird.
Adelheid Zetsche: Und im Kollektiv arbeitet.
Gabriele Wunderer: Aber trotzdem jeder Einzelne individuelle Kompetenzen hat. Was ich hier im Opernchor erlebe, ist auch eine große Spielfreude und die gegenseitige Achtung voreinander. Man hält zusammen, man stützt sich. Und man erweitert seinen Horizont, weil so viele unterschiedliche Menschen bei uns zusammenkommen. Momentan haben wir mehr als ein Dutzend verschiedene Nationalitäten im Chor – das ist gelebte Diversität!
Allan Parkes: Es schafft auch eine starke Energie, wenn wir vierzig Menschen auf die Bühne kommen.
Gabriele Wunderer: Und es ist toll, wenn ein*e Regisseur*in diese Energie benutzt, diese mitreißende Kraft, die man alleine gar nicht aufbringen, sondern eben nur im Kollektiv erleben kann.
Brigitte Heusinger: Wie gestaltet sich die Arbeit in einem Chor?
Yosuke Kodama: Vielseitig und strukturiert! Etwa zwei Monate vor der Premiere eines Stückes haben wir die dazugehörigen musikalischen Proben im Chorsaal, ungefähr sechs Wochen davor szenische Proben auf der Bühne oder Probebühne.
Ute Korthen: Wobei sich beides immer mischt, denn wir arbeiten ja an mehreren Stücken gleichzeitig. Am Morgen sind wir beispielsweise mit dem*der Regisseur*in szenisch auf der Bühne für die aktuelle Oper, am Abend proben wir musikalisch an den Produktionen, die danach anstehen.
Allan Parkes: Und dann kommen ja auch die bereits laufenden Vorstellungen dazu.
Ute Korthen: Jedes Werk fordert uns anders. Das fängt schon bei der Sprache an. Wir singen Deutsch, Französisch, Englisch, Tschechisch, Italienisch, Spanisch oder Russisch. Das ist sehr anspruchsvoll, deshalb arbeiten wir auch mit einem Sprachcoach zusammen, damit die Aussprache stimmt. Aber dann muss man ja auch noch richtig singen und sich später dazu auf der Bühne bewegen. Da kommt Einiges zusammen.
Adelheid Zetsche: Zum Thema Struktur: Unsere Arbeitszeiten sind streng geregelt. Die Morgenprobe geht von 10 bis 13 Uhr, die Abendprobe von 18 bis 21. Vorstellungen dauern so lange, wie sie eben dauern – meistens länger. Wir spielen an Feiertagen und Wochenenden. Das macht es manchmal schwer, noch ein Leben außerhalb des Theaters zu führen. Und deshalb ist es wichtig, diesen Rahmen für die Proben gut zu nutzen, denn man braucht diese Zeit dazwischen.
Brigitte Heusinger: Und wie gestaltet sich die Arbeit mit der Chordirektorin Alice Meregaglia?
Allan Parkes: Ich finde sie genial.
Yosuke Kodama: Sie schafft eine positive Atmosphäre.
Allan Parkes: Und sie spürt uns. Sie erspürt diese vierzig, sehr unterschiedlichen Menschen und fragt sich: Wie bekomme ich die zusammen, ohne die Individualität des Einzelnen zu verlieren?
Gabriele Wunderer: Das hat auch etwas mit innerer Gelassenheit zu tun , mit Disziplin, mit Liebe zur Musik und zum Menschen. Dadurch ist uns, meiner Meinung nach, auch ein gewaltiger musikalischer Sprung nach vorn gelungen. Sie modelliert unsere Stimmen, sucht nach den einzelnen Klangfarben und stellt gleichzeitig Homogenität her.
Adelheid Zetsche: Während der Proben zu unserem letzten Konzert Vom Himmel kommt es, zur Erde geht es hat sie uns beispielsweise getrennt voneinander sitzen lassen, damit sie jeden von uns genau hören kann und merkt, wie wir singen, um dann daraus wieder einen gemeinsamen Chorklang herzustellen.
Allan Parkes: Wir haben eine große Eigenverantwortung dadurch. Und können gleichzeitig selbst mitgestalten.
Gabriele Wunderer: Bei unserem neuen Konzert Weihnachtsliederreise setzt sich diese Linie fort. Wir haben unter anderem an dem a capella-Klang weitergearbeitet – das ist sehr herausfordernd, bringt uns an Grenzen und das ist gut!
Ute Korthen: Das Programm ist auch diesmal vielseitig und anspruchsvoll, aber ebenso besinnlich, lustig, farbenreich. Es sind Lieder aus England, Frankreich, Deutschland, Südamerika, sogar Georgien.
Yosuke Kodama: Ein Mix aus Bekanntem und Unbekanntem. Und bei den bekannten Liedern darf das Publikum auch gerne mitsingen, wenn es möchte!
Brigitte Heusinger: Bei so vielen Menschen auf der Bühne und so vielen Verabredungen, die in einer Inszenierung ausgeführt werden müssen, passieren auch mal lustige Pannen. An welche erinnert ihr euch spontan?
Yosuke Kodama: Ich erinnere mich an ein Stück, in dem wir im Chor Engel waren, mit schönen großen weißen Flügeln. Wir versanken dann zu einer bestimmten musikalischen Stelle im Bühnenboden. Aber fünf dieser Engel – einer davon war ich – kamen zu spät. Wir betraten also die Bühne, haben gesehen, dass wir die Fahrt des Podiums verpasst haben und waren irritiert. Also sind wir wieder abgegangen – und haben hinterher sehr über uns gelacht.
Ute Korthen: In Maskenball gab einen sehr erinnerungswürdigen Moment. Am Tag zuvor hatten wir eine Gala gespielt, in der der Dirigent in einer Gondel hereingefahren kam und Luftballons aufgestiegen sind. Einer davon blieb unbemerkt an der Decke hängen und entschied sich, am nächsten Tag genau in der Sterbeszene von Riccardo am Schluss von Maskenball ganz gemächlich, in Zeitlupe, nach unten zu schweben und mit der letzten musikalischen Note im Orchestergraben zu verschwinden. Und wir standen auf der Bühne und verfolgten fasziniert und dadurch abgelenkt den perfekten Fall dieses Luftballons. Hinterher haben mich Freunde gefragt, wie wir das so genau hinbekommen haben. Das war sehr amüsant.
Gabriele Wunderer: In einer Carmen-Vorstellung hatten wir Signallampen, die man per Knopf bedienen musste. Einmal drücken hieß, sie ist an, zweimal Blinklicht, dreimal aus. Ich starb dann in einer Szene, mit meiner angeschalteten Lampe, fiel und drückte auf den Knopf, um sie auszumachen. Aber ich hab einmal zu wenig gedrückt. Während ich also als Leiche auf der Bühne lag, mit geschlossenen Augen, blinkte ich die ganze Zeit und hab die Aufmerksamkeit auf mich gezogen – und hab es nicht gemerkt.
Adelheid Zetsche: Aber eine der besten Leichen-Pannen war bei Idomeneo. Da spielte ein Kollege ebenfalls eine Leiche und wurde von einem anderen von der Bühne weggetragen.
Allan Parkes: Dann war aber der, der die Leiche spielte, längere Zeit krank und der Moment entfiel. Als er dann wiederkam, hat sein Kollege, der ihn wegtragen sollte, das nicht mitbekommen.
Adelheid Zetsche: Also starb er auf der Bühne – und blieb einfach liegen, darauf wartend, dass ihn jemand von dort wegholte. Aber es kam keiner.
Allan Parkes: Und der andere Kollege saß derweil in der Kantine, wo man das Bühnengeschehen auf einem Fernseher mitverfolgen kann und sah plötzlich, dass da wieder eine Leiche war, die er hätte wegtragen sollen – oh Gott! Aber jetzt war die Szene vorbei und er konnte nicht mehr auf die Bühne zurück.
Adelheid Zetsche: Also hat der Kollege auf der Bühne Eigeninitiative ergriffen und ist so unauffällig wie möglich ins Off gerobbt. Ein Bekannter hat mir hinterher erzählt, dass er das an der Inszenierung nicht verstanden hat: Erst sind sie tot, aber dann leben sie wieder und gehen weg. Ich habe Tränen gelacht.