DAS JANUAR-EDITORIAL

Michael Börgerding über America: Nicht vorstellbare Bilder und amerikanische Geschichten

Was passiert eigentlich mit uns, wenn die Bilder, die das Kino oder das Fernsehen produziert haben, durch die Bilder der Realität überholt werden? Wie gehen wir damit um, dass die großen US-Präsidentenserien The West Wing (154 Folgen, 7 Staffeln und 7 Jahre über den Arbeitsalltag des US-Präsidenten und seiner engen Berater – eine der  Lieblingsserien von Jens Spahn im übrigen) und House of Cards (Die Geschichte des Abgeordneten Francis „Frank“ Underwood, der gemeinsam mit seiner ebenfalls machthungrigen Ehefrau ein System von Intrige, Korruption und Mord kreiert, um amerikanischer Präsident zu werden – eine der Lieblingsserien nicht nur von Jürgen Trittin „als Gegenstück der insbesondere in Deutschland vorherrschenden Talkshow-Kultur“), wie gehen wir also damit um, dass diese Serien, ihre Bilder und ihre Schauspieler „durch die surrealen Bilder aus dem amerikanischen Kongress vom Mittwoch wie im Zeitraffer gealtert“ sind, wie Paul Ingendaay in der FAZ schreibt. „Damals waren die Bilder vom fatalen Mittwoch noch das, was sie nun nicht mehr sind: unvorstellbar.“

Vermutlich ist es nicht übertrieben, wenn erste amerikanische Kommentaren schreiben, dass sich die Bilder von der Erstürmung des Kongresses durch den Trumpschen Mob so in unser kollektives Bildgedächtnis einprägen werden wie die Bilder vom 11. September.

Was bei House of Cards als Stilmittel noch völlig neu war (oder ganz, ganz alt war, nämlich bester Shakespeare), das wiederholte Durchbrechen der sogenannten vierten Wand durch das Sprechen direkt in die Kamera – Frank Underwood richtet seine sarkastischen oder zynischen Bemerkungen und Ankündigungen direkt an den Zuschauer oder die Zuschauerin –, ist zum einen ein mittlerweile gelerntes ästhetisches Mittel, zum anderen auch real vorstellbar und real praktiziert: kein Vorhaben und keine Politik, die Donald Trump nicht offen vorher angekündigt hätte. Nie haben wir uns vorstellen können, dass er tut, was er sagt. Oder noch anders: Wir haben uns nicht vorstellen wollen, dass er sagt, was er sagt und dass er tut, was er sagt. Obwohl wir Kevin Spacy Underwood spielen haben sehen. Die große tschechische Regisseurin Agnieszka Holland, die bei zwei Episoden der dritten Staffel Regie führte, bezeichnete die Serie als eine „gefährliche Schöpfung“, Frank Underwood habe den Weg für den Präsidentschaftsanwärter Donald Trump geebnet.

düsterer spatz am meer / hybrid (america) ist der Titel eines neuen Stückes, mit dem wir als Uraufführung die Spielzeit im Herbst 2020 eröffnet haben. Über drei Jahrzehnte erstreckt sich eine Familiengeschichte als bitterer Abgesang auf den amerikanischen Traum. Hat Fritz Kater, der Autor, sich vorstellen können, was da am Mittwoch, den 6. Januar 2021 passiert ist in Washington? Vermutlich nicht – sein Stück endet 2015. Und trotzdem gibt es vieles in diesem Stück, was den Weg dorthin nachzeichnet. Eine Geschichte der Gewalt und des großen Geldes, über die Jahrzehnte seit den Achtzigern des letzten Jahrhunderts, Columbine, 9/11, Irak-Krieg, New Economy, Börsencrash. Aber es ist kein Erklärungsstück, es gibt keine Beweisführung, sondern es ist erstmal nur eine Familiengeschichte. Eine deutsche amerikanische Soap-Opera bzw. die schnelle Adaption der great american novel für die Bühne. Eine Familiensaga. Am Ende steht die Hauptfigur, Melinda, wieder am Pool ihrer Kindheit. Bald wird sie das alles plattwalzen für das Business von morgen: Fahrten zum Mond. Think big. Die Zukunft der Menschheit liegt außerhalb unseres Planeten. The space ist the place. Aber Melinda weiß nicht mehr recht, wer sie ist und ihre Tochter Luna, die seltene Pflanzensamen züchtet, um die Menschheit zu retten, kommt bei einem Attentat ums Leben. 

Ich würde Ihnen gerne zwei Bücher empfehlen, die ich in den letzten Tagen gelesen habe, und die einiges zu erzählen haben über das Amerika von heute, zwei Familiengeschichten und zwei große amerikanische Romane der Gegenwart.

Die in Deutschland lebende amerikanische Autorin Nell Zink hat mit Das hohe Lied eine wunderbar überraschende und merkwürdig einfühlsame Chronik der neueren US-Geschichte geschrieben vom Beginn der Achtziger bis zur Wahl Trumps, es geht um drei Freunde, Drogen, Sex und Punk in New York bis zum Wendepunkt durch den 11. September: Joe, autistischer und genialer Musiker, stirbt an dem Tag einen Drogentod und Pam und Daniel verlassen mit ihrer Tochter fluchtartig New York. Der Roman erfindet sich noch einmal neu als Drei-Generationenporträt von drei Frauen, die Mutter von Pam taucht wieder auf, Pams Tochter Flora wird gut behütet bei ihr und ihrem Großvater in Washington erwachsen, Pam und Daniel leben weiter in New York, Pam arbeitet wieder in der IT-Branche, Daniel macht dies und das, Pam wird heimliche Millionärin und lebt weiter ihre scheinbare Autonomie in einer stark veränderten, zunehmend gespannten politischen Situation. Flora beginnt sich für Umweltthemen zu engagieren und realisiert im Gegensatz zu ihren Eltern die sich weitende Kluft zwischen der politischen Klasse und dem einfachen Bürger. Flora wird Wahlkämpferin in der Kampagne der grünen Präsidentschaftskandidatin Jill Stein, ist zusammen mit einem älteren abgebrühten oder zynischen Wahlkampfberater der Demokraten, bekommt aber ein Kind von einem jungen idealistischen Aktivisten und muss sich entscheiden, wie sie ihr Leben führen will. Das alles ist schnell erzählt, ironisch, rasant, cool und mit Witz und analytischer Genauigkeit. Essayistische Betrachtungen über politische Großwetterlagen wechseln sich ab mit rasanten Dialogen und hinterher ist man deutlich klüger, ohne gemerkt zu haben, warum eigentlich.

Das andere Buch ist Ben Lerners Die Schule von Topeka – sozusagen die andere Seite der gleichen amerikanischen Geschichte aus männlicher Sicht. Erstmal eine ganz einfache Geschichte, der Klappentext geht so: „Adam Gordon geht auf die Topeka High School, er steht kurz vorm Abschluss. Seine Mutter Jane ist eine berühmte feministische Autorin, sein Vater Jonathan ein Experte darin, ‚verlorene Jungs‘ wieder zum Sprechen zu bringen. Sie beide sind in einer psychiatrischen Einrichtung tätig, in der Therapeuten und Patienten aus der ganzen Welt zusammenkommen. Adam selbst ist ein bekannter Debattierer, alle rechnen damit, dass er die Landesmeisterschaft gewinnt, bevor er auf die Uni geht. Adam hat ein Herz für Außenseiter, und so freundet er sich mit Darren an – er weiß nicht, dass der einer der Patienten seines Vaters ist und führt ihn in seine Kreise ein. Mit desaströsen Folgen.“ Eine Adoleszenzgeschichte also, ein Coming of Age-Roman, nicht postmodern verspielt, eher sehr ernsthaft, immer der Bedingungen seiner Möglichkeit bewusst, reflektiert bis in die letzte Verästelung, in wechselnden Stimmen sprechend, autobiografisch und fiktional zugleich. Dabei nicht ohne Witz und Schlagfertigkeit. Die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft analysiert Lerner als eine Krise der Rhetorik – der Sprache, mit der wir kommunizieren oder eben nicht kommunizieren – und eine Krise der Männlichkeit, seiner, unserer toxischen Männlichkeit. Es ist auch ein Roman über Fremdheit: Es geht um eine in die amerikanische Provinz verschlagene Ostküsten-Elite, die sich all jenen „Losern“ gegenübersieht, die Donald Trump verehren. Eine Kommunikation ist nicht mehr möglich: eine Sprache des Hasses begegnet auf der anderen Seite eine „ständige Reflexion des eigenen Kommunikationsverhaltens“, die Kommunikation dann nachgerade auch wieder unmöglich macht. Man kann sich Adam Gordon sehr gut vorstellen, wie er in Brooklyn, wo er jetzt als Vater zweier Töchter lebt, fassungslos auf die Bilder aus Washington schaut, und genau weiß, dass Darren zu denjenigen gehört, die das Kapitol stürmen.

Was bleibt uns gerade, um den Schrecken und die neuen Bilder zu verarbeiten als gute Bücher zu lesen, sich an gute Aufführungen zu erinnern und lange spazieren zu gehen? Wir hoffen, im Februar wieder probieren zu können und im März wieder für Sie spielen zu dürfen. Ich wollte Sie nicht langweilen mit Plänen, die wir gerade wieder neu machen. Wir sehen uns wieder – auf bald!