Das Januar-Editorial: Zürich, München, Stuttgart – und Hamburg

Theater- und Reisetipps von Michael Börgerding

Am Donnerstag, den 23. Januar 2020, kommt es in Zürich zu einem interessanten Vergleich zweier Regisseure – einem Vergleich, den allerdings niemand gleichzeitig sehen kann. Zwei Premieren am gleichen Tag, die eine im Pfauen, dem Stammhaus des Schauspielhaus Zürich, die andere nur wenige hundert Meter entfernt im Theater am Neumarkt. Und es sind zwei Bremer Bekannte, die da in Zürich inszenieren. Alexander Giesche, in Bremen einige Jahre lang Artist in Residence und regelmäßiger Gastregisseur, gehört jetzt zum Regieteam von Benjamin von Blomberg (nun wirklich kein Unbekannter in Bremen) und Nicolas Stemann, die seit dem letzten Sommer gemeinsam das Schauspielhaus in Zürich leiten. Giesche wird seinen ersten modernen Klassiker inszenieren: Der Mensch erscheint im Holozän. Ein Visual Poem nach Max Frisch.

Ein Zeitalter weiter

Während Giesche überraschenderweise vom Holozän erzählt, ist unser Bremer Hausregisseur Felix Rothenhäusler bei seinem Gastspiel in Zürich gleich ein Zeitalter weiter. Er inszeniert gemeinsam mit dem Musiker Hendrik Weber (Pantha du Prince) MONONOKOKE, ein – so die Dramaturgie – „Musiktheaterprojekt für das Anthropozän – des menschengemachten Zeitalters der Atombombe, der Erderhitzung, des Artensterbens und der brennenden Urwälder – mit dem Versuch, die Trennung zwischen Mensch und Natur durch einen neuen Mythos zu überwinden.“ Nicht wirklich überrascht über das Thema wie das Format werden die sein, die hier seine Replikantenoper The End gesehen haben. Seine Bühnenbildnerin Katharina Pia Schütz und seine Kostümbildnerin Elke von Sivers sind natürlich auch in Zürich wieder mit dabei.

Dritte Bekannte aus Bremen

Wer tatsächlich beides in Zürich sehen und erleben will, das Holozän und das Anthropozän, muss sich ein bisschen Zeit mitnehmen, die nächstfolgenden Vorstellungen sind erst am Samstag, 25.1. (Neumarkt) und am Montag, 27.1. (Schauspielhaus) – den Sonntag kann man aber überbrücken mit einer Arbeit einer dritten Bekannten aus Bremen: Leonie Böhm (Unterwerfung, Effi Briest (27) und Fuck Identity – Love Romeo) präsentiert sich in Zürich als Hausregisseurin am Schauspielhaus mit einer alten Arbeit und einem großen Erfolg in der Kritik: „die stärkste Inszenierung des Eröffnungsreigens (...) wenige Gesten, große Gefühle, toll.“ Kasimir und Karoline von Ödön von Horváth ist dabei eine Übernahme eines Projektes an der Theaterakademie Hamburg aus dem Jahre 2015. Das freut natürlich den ehemaligen Direktor der Theaterakademie, also mich – aber 2015 war ich dann doch schon in Bremen. Immerhin: aufgenommen an der Theaterakademie habe ich Leonie Böhm, acht Jahre ist es her.

Bremer Gastarbeiten auch in München

München liegt nicht unbedingt auf dem Weg nach Zürich, aber ein kleiner Umweg auf der Suche nach Bremer Gastarbeiten lohnt auch hier. Seit dieser Spielzeit ist Tarun Kade jetzt Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen. Dass er seinem ehemaligen künstlerischen Partner in Bremen, Felix Rothenhäusler, weiter die Gelegenheit gibt, in München zu arbeiten, versteht sich dabei fast von selbst. Sehen kann man im Januar am Donnerstag, den 16., noch einmal eine Arbeit aus der letzten Spielzeit: Melancholia von Lars von Trier. Das Team auch hier das gleiche wie bei uns in Bremen: Rothenhäusler/Schütz/von Sivers. Am 1. April gibt es dann eine neue Arbeit von ihm in München zu sehen, eine Uraufführung von Enis Maci, WUNDE R lautet der doppeldeutige Titel und wer sich fragt, wer ist noch einmal Enis Maci: am 30. April hat ein zweites neues Stück dieser jungen und, wie ich finde, klugen und aufregenden Autorin Premiere, und zwar bei uns im Kleinen Haus: Die Marquise von O. … – Faster Pussycat! Kill! Kill! nach Heinrich von Kleist und Russ Meyer. Regie führt die junge Regisseurin Elsa-Sophie Jach, wie Rothenhäusler und Böhm ebenfalls von der Theaterakademie in Hamburg kommend. Es ist ihr Debüt in Bremen.

Wir schauen, dass Leonie Böhm vielleicht schon bald den Weg wieder zurück in den Norden findet.

Zurück nach München, zurück zu Leonie Böhm. Denn auch sie inszenierte als Gast an den Kammerspielen. Und hat mit nur vier Schauspielerinnen, Gro Swantje Kohlhof, Sophie Krauss (in Bremen bei Fuck Identity – Love Romeo im großartigen Doppel mit Annemaaike Bakker dabei), Eva Löbau und Julia Riedler (ebenfalls von der Theaterakademie), einen großen Publikumserfolg im großen Haus, in der sogenannten Kammer 1: Räuberinnen nach Friedrich Schiller. Die Vorstellung im Januar ist auf jeden Fall schon ausverkauft und in der Süddeutschen Zeitung findet sich die schöne Beschreibung: „Die Regisseurin greift sich gern Klassiker, zerlegt diese in Einzelteile und prüft, was sie und ihr Ensemble daran interessiert. Daraus entwickeln sie dann gemeinsam ein eigenwilliges Theater, das immer Party, Musikvideo, Originaltext, Zeitgeist und im besten Fall kluger Kommentar dazu ist. Bei den Räuberinnen kommt noch das Element ‚Wie mal ein Junggesellinnenabschied außer Kontrolle geriet’ dazu und Böhm führt all das auf leichteste und lustigste Weise zusammen.“ Wir schauen, dass Leonie Böhm vielleicht schon bald den Weg wieder zurück in den Norden findet.

Alte Bekannte auch an der Staatsoper Stuttgart: Paul-Georg Dittrich inszeniert BORIS

Aber wir bleiben vorerst im Süden. Und fahren über Stuttgart zurück nach Bremen. Seit der letzten Spielzeit ist Ingo Gerlach dort Chefdramaturg an der Staatsoper Stuttgart. Und so findet man jetzt auch in Stuttgart Bremer Regisseure und ihre Inszenierungen. In der letzten Spielzeit war es Marco Štorman, der mit Nixon in China von John Adams begeistern konnte. Jetzt hat am Sonntag, den 2. Februar, Paul-Georg Dittrich dort Premiere mit einem großen und ambitionierten Musiktheaterprojekt: BORIS von Modest Mussorgski/Sergej Newski. Hinter dem einfachen Titel BORIS verbirgt sich Modest Mussorgskis Boris Godunow nach dem gleichnamigen Versdrama von Alexander Puschkin verschnitten mit einer Auftragskomposition der Staatsoper Stuttgart von Sergej Newski: Secondhand-Zeit nach Texten aus dem gleichnamigen Buch von Swetlana Alexijewitsch. Klingt erstmal kompliziert, in dem Ankündigungstext der Dramaturgie aber sehr spannend: „Newskis Neukomposition verzahnt sich in BORIS mit Mussorgskis Oper von 1869 zu einer gemeinsamen Erzählung. Der Regisseur Paul-Georg Dittrich entwirft Boris Godunow dabei als düstere Zukunftsvision eines neozaristischen Reichs mit maßgeschneidertem Geschichtsbild aber ohne Gedächtnis. In der kollektiven Amnesie flackern die Erinnerungen aus Secondhand-Zeit immer wieder auf. Wie Untote fahren die vor langer Zeit geträumten Träume und erlebten Enttäuschungen in die Menschen der Zukunft und geben ihnen ein Gefühl für ihr Gestern zurück.“ Für den, der die bildgewaltigen Arbeiten von Dittrich in Bremen wie La damnation de faust oder Wozzeck – mit denen er gleich zweimal für den FAUST-Preis nominiert wurde – gesehen hat, wird sich eine Reise sicher lohnen. Zumal Titus Engel am Pult stehen wird, ebenfalls ein Bremer Bekannter aus dem Musiktheater. In Herbert Fritsch’ legendärer Banditen-Inszenierung war er dabei, nicht nur am Pult, sondern auch unerschrocken auf der Bühne. Mit dabei ist auch Paul-Georg Dittrichs komplettes Wunschausstattungsteam – weil es die Stuttgarter Oper ist, sind es gleich vier Frauen, die für Bühne und Kostüme zuständig sind: Joki Tewes, Jana Findeklee, Pia Dederichs und Lena Schmid.

Hamburg als Reiseziel

Für den, dem das alles zu weit ist, bleibt Hamburg als Reiseziel. Dort leitet Klaus Schumacher seit 2005 das Junge SchauSpielHaus, eine überaus produktive, innovative und erfolgreiche Sparte des Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Dort kann man immer wieder aufregende Entdeckungen machen, eine könnte das Stück Dschabber des Kanadiers Marcus Youssef sein, das Schumacher am 11. Januar zur Premiere bringt, ein Stück über ein kopftuchtragendes Mädchen mit Witz und Verstand mit dem schönen Motto „Falls du vorhast, die Schule in die Luft zu jagen, ich bin dabei.“ Alexander Riemenschneider inszeniert ebenfalls regelmäßig am Jungen Schauspielhaus, im Januar kann man gleich zwei Inszenierungen von ihm dort sehen: Ellbogen ist die eine, die Adaption des Romans von Fatma Aydemir, eine beunruhigende Erzählung über das Erwachsenwerden eines postmigrantischen Mädchens und ihre Wut „so groß, dass sie nicht in mich hineinpasst.“ Katherina Sattler, mittlerweile im Ensemble in Hannover, ist im Übrigen für ihre Darstellung in der Kategorie „Darstellerin/Darsteller Schauspiel“ für den wichtigsten deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert gewesen. Die sexuellen Neurosen unserer Eltern des Büchner Preisträgers Lukas Bärfuss ist die andere Arbeit, eine wirkliche Wiederentdeckung, die Uraufführung am Theater Basel 2003 mit Sandra Hüller in der Hauptrolle, jetzt neu gesehen mit dem Ensemble des Jungen Schauspielhaus und mit Friederike Jaglitz und Michael Schumacher vom Hamburger Theaterensemble MEINE DAMEN UND HERREN als Gäste – ein Stück über die sexuelle Befreiung einer geistig behinderten Frau, zum ersten Mal zu sehen an einem Theater für ein junges Publikum.

„DAS HABEN WIR UNS GESCHWOREN.“

Und noch ein Hinweis auf die Zukunft des Theaters: Zwischen Januar und März präsentieren die Absolvent*innen des Studiengangs Regie der Theaterakademie Hamburg ihre Abschlussarbeiten – vier auf Kampnagel und eine am Jungen Schauspielhaus. Am 31. Januar 2020 eröffnet Dominique Enz in der K2 auf Kampnagel mit Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte. Ein schöner Titel – man darf gespannt sein. Und das sagen sie selbst über ihren Jahrgang: „Als unser Jahrgang vier Tage alt war, haben wir im Rausch der Endorphine die Hände aufeinandergelegt. Wir waren uns einig: Die Strukturen des Theaters reproduzieren hinter der Bühne oft die Missstände, die auf der Bühne angekreidet werden. Unsere Kunst sollte von nun an immer unter fairen Bedingungen entstehen. Drei Jahre sind seitdem vergangen und wir haben festgestellt, dass Schwüre leichter verkündet als eingehalten werden. Mit unseren Abschlussarbeiten treten wir ein letztes Mal gemeinsam für unsere Überzeugung an, um sie danach, jede*r für sich, hinaus in die Welt zu tragen – DAS HABEN WIR UNS GESCHWOREN.“

 

Veröffentlichung: 2020