Das Keine-Ahnung-Problem
Die Autorin Nele Stuhler ist zu Gast in Ein Stück Gegenwart. Salon zu neuer Dramatik. Im Mai wird zudem Keine Ahnung, ein Projekt von Andy Zondag mit Texten von Stuhler, im Brauhaus Premiere feiern. Dramaturgin Sonja Szillinsky hat sie interviewt.
Sonja Szillinsky: In Keine Ahnung schreibst du: „Wenn man sich die Dinge ganz genau anguckt, mit einer sehr, sehr großen Lupe, dann sieht man ja, auf der größten Vergrößerungsstufe, woraus die Menschen und die Tiere und die Pflanzen und die Dinge und alles was es gibt zusammengesetzt sind: Aus kleinen Körnchen Widerspruch. Und drumrum keine Ahnung.“ – An welche Widersprüche denkst du?
Nele Stuhler: Puh. Das Gute an Keine Ahnung ist ja, dass auf jede Frage zu diesem Text die Antwort immer nur lauten kann: Keine Ahnung. Und das reicht dann aber natürlich nicht. Aber ich wüsste eben gar nicht, was nicht widersprüchlich wäre. Na ja, das schreibe ich ja an der Stelle auch, jetzt wiederhole ich es wohl nochmal: Ich habe von den Dingen irgendwelche Überzeugungen. Keine Ahnung, dass irgendwas gesund ist, oder gefährlich oder böse, oder besser geworden oder schlechter. Und wenn ich mir dieses eine Ding dann genauer anschaue, was ich ja für die allerwenigsten Dinge überhaupt nur mache, aber manchmal eben, zumindest ein bisschen genauer (und dafür ist die Theaterarbeit auch wirklich so toll) und natürlich nie genau genug, dann zerfallen einem die Überzeugungen, dann bleibt nichts böse oder gesund, dann zerfallen einem sogar die Dinge in ihrer Eingebundenheit in die Widersprüche. Jetzt hab ich natürlich gar keinen konkreten Widerspruch genannt, weil es mehr um den Vorgang geht, ums Schauen, und weniger ums Geschaute. Aber so ist das jetzt eben.
Kannst du erklären, was das „Keine-Ahnung-Problem“ ist und worin das Erkenntnisreiche in der Auseinandersetzung damit liegt?
Also genau: Keine Ahnung, was das Keine-Ahnung-Problem ist. Aber das ist eben genau das Keine-Ahnung-Problem, sozusagen, dass, so wie die Sprache verfasst ist, mit der wir ja, keine Ahnung, zugreifen auf die Welt, ich nicht umhinkann, und du doch auch nicht, zu behaupten, dass ich eine Ahnung hätte und auch eine Ahnung haben will oder zumindest so aussehen, keine Ahnung, als hätte ich eine Ahnung. Und dann stehen wir so voreinander, mit Keine-Ahnungen, die aber irgendwie so aussehen, wie Ahnungen, weil es ja auch gar nicht anders geht, wahrscheinlich, keine Ahnung. Und ich habe keine Ahnung, aber ich glaube, weil die Sprache das eben nicht in sich kann, also keine Ahnung in sich zuzulassen, schieben wir – keine Ahnung wer „wir“ ist – „keine Ahnung“ so oft in die Sprache rein. Also zumindest ich schieb es ständig rein, keine Ahnung, wenn du mich was fragst zum Beispiel und das hast du ja gerade, und dann sag ich, ich kann gar nicht anders, dass es so und so ist und dann aber zwischendurch „keine Ahnung“.
In deinen Gaia-Stücken – inzwischen gibt es drei – erzählst du einen sehr großen Bogen: von der Schöpfung der Welt bis zum Aussterben der Menschheit. Was reizt dich an der mythologischen Figur Gaia, die als eine der ersten Gottheiten aus dem Chaos kommt und vor allem als Personifikation für die Erde steht?
Ich habe Gaia entdeckt, als ich auch das Theater entdeckt habe, im Jugendtheater des Deutschen Theaters Berlin. In meinem ersten Jugendclub-Theaterprojekt jemals haben wir uns mit der Antike beschäftigt und da tauchte plötzlich Gaia auf und mich hat das mit, keine Ahnung, 16, total geflasht, dass es da diese weibliche Schöpfungsgöttin gab, Gaia, und dass die von neueren männlichen Schöpfungsgöttern überlagert wurde. Es gibt so viele mythologische Geschichten, aber das, woraus theoretisch alles entstanden ist, der Gaia-Mythos, das sind bei Gustav Schwab (Sagen des klassischen Altertums), keine Ahnung, zwei Seiten von tausend und dann kommt Gaia einfach nicht mehr vor. Und dann dachte ich, minimal größenwahnsinnig, na dann schreib ich das doch mal auf, wie es „am Anfang“ eine weibliche Schöpfungsgöttin gab – und jetzt sind wir im Patriarchat und was ist da auf dem Weg passiert? Welche Entscheidungen wurden getroffen, was die Aufteilung und Funktionsweise unserer Welt angeht? Denn wenn die Welt als Schöpfung gedacht wird, dann ist ja jedes Lebewesen, jedes Prinzip usw. eine Entscheidung. Und da hat ja mit einem „männlichen“ Schöpfergott, der sich einfach alles ausdenkt, hex hex, auch eine völlige Umkehrung der Idee von Schöpfung stattgefunden, wo das Schöpfen doch erstmal ein körperlicher und auch „weiblicher“ Vorgang ist und wo ja vielleicht auch bisschen Neid im Spiel ist …
Du erzählst einen durchgängig weiblichen Schöpfungsmythos, in dem die Verhältnisse umgekehrt werden. Durch diese matriarchale Struktur werden Dinge in ihrer Zufälligkeit und manchmal Absurdität sichtbar, bspw. wenn Verhaltensweisen männlichen Figuren zukommen, die in unserer patriarchal strukturierten Welt eher weiblichen Figuren zugeschrieben werden. Was müsste in unserer Welt geschehen, damit sich der gesellschaftliche Blick in Bezug auf Rollenverteilungen mehr weitet?
Ich würde die Frage gerne etwas verkleinern, auf „unsere“ Welt, deine und meine, also das Theater. Es müsste natürlich auch außerhalb noch sehr viel geschehen, aber ich denk ja erstmal an dieser Welt viel rum. Wir vom Theater (und die Leute vom Film und überhaupt alle Schreibenden müssen da natürlich auch mit ins Boot) arbeiten den ganzen Tag an Narration. Und da geht es, glaub ich, zumindest für mich, darum, was mit Text passiert, wenn er auf die Körper trifft, die ihn sprechen und wenn diese ihn laut in einen Raum hineinsprechen. Also ja genau, das ist Theater, aber das vergisst sich ja auch manchmal. Und ich glaube oder zumindest erscheint es mir in meiner eigenen Praxis bisher sinnvoll, dass es nicht nur darum geht, einfach die Sachen umzukehren (nicht dass das falsch ist, es ist ja auch einfach wichtig für die Jobs, solange dieser Kanon noch so fröhlich gespielt wird, dass alle Spieler:innen mal Dingens spielen können), sondern darum, die Zuschreibungen so lange durcheinander zu wirbeln, bis niemand mehr so genau weiß, wie herum es eigentlich gehört. Ich habe zum Beispiel versucht, die Gaia-Stücke so zu schreiben, dass jede Besetzung möglich wäre, weil die Figuren eh Geschlechter wechseln oder kein klares haben oder verschiedene Rollen haben und auch Rollen nochmal zwischendurch wechseln, und also jede Besetzungsentscheidung irgendwie Bedeutung erzeugt und die Setzung sichtbar macht: Wer jetzt hier wieder was spielen muss oder darf. Der Versuch wäre auch, und das gelingt mir definitiv nicht immer, keine Stereotype zu wiederholen (weil dann, egal wie kritisch es gemeint ist, ja doch noch einmal die Marginalisierung wiederholt wird) und sie auch nicht nur umzudrehen, sondern sie dann immer noch weiterzudrehen, aber damit nicht wieder „am Anfang“ anzukommen, sondern, was weiß ich wo. Figuren überhaupt zu schreiben ist eine extreme Verantwortung, fast unmöglich, aber es macht eben auch so viel möglich aufzuzeigen. Gerade probiere ich auch damit rum, Texte zu schreiben, in denen es keine Figuren gibt und abstraktere Narrationen, vielleicht sogar ein abstrakter Universalismus, der sonst eher unmarkierten (weißen, männlichen, abled) Spielern vorbehalten wäre und den für alle spielenden Körper verfügbar zu machen. Denn das ist ja auch irgendwann ein Problem, wenn man nur über die Thematisierung der eigenen Marginalisierung vorkommen darf.
Zwischen Gaia und Zeus entsteht mit der Zeit ein Konkurrenzkampf über Macht, aber auch über die Frage, wer die Geschichte der Schöpfung am Ende dominieren wird: Welche Erzählung geht schließlich ein in das kollektive Bewusstsein? – Wie wichtig sind Erzählweisen für uns Menschen? Was konstruieren sie?
Ich glaub, das hab ich jetzt in der Monsterantwort davor schon aus Versehen beantwortet. Also ja, Erzählungen sind natürlich extrem entscheidend, nicht nur für Menschen, deswegen sprechen auch immer nicht nur Menschen in den Gaia-Texten, sondern auch Berge und Milben usw., die werden von uns ja noch gleich mitkonstruiert, ohne danach gefragt zu werden. Und weil es ja dann doch nicht, oder zumindest ist das die Erfahrung bisher, ohne Erzählungen unserer selbst geht, ist die tägliche Arbeit, an diesen Erzählungen herumzuschrauben. Vor drei Wochen ist René Pollesch viel zu früh gestorben, dessen Arbeit für mich (und für viele andere) eigentlich der Moment war, in dem ich kapiert habe, dass Theater was kann, weil ich aus diesen Abenden rausgegangen bin und gedacht habe: Eigentlich – kann ich jetzt nicht so weitermachen. Und auch niemand sonst, dier das gerade gehört hat. Und das müsste – eigentlich – immer der Anspruch sein.
Veröffentlicht am 20. März 2024