Das Leistungsmärchen dekonstruieren
Daniela Dröscher, Autorin von „Zeige Deine Klasse“ und „Lügen über meine Mutter“ im Gespräch mit Schauspieldramaturg Stefan Bläske über Entwicklungsromane, „class trouble“ und die feministische Ökonomie.
Stefan Bläske: Spätestens seit Didier Eribons Rückkehr nach Reims (2009) scheint es eine Mode von autofiktionalen Romanen über den Klassenwechsel zu geben? Würdest du dich da einordnen?
Daniela Dröscher: Mein Schreiben ist sehr geprägt von französischen Autor:innen, die versuchen, ihren „class trouble“ literarisch oder soziologisch zu fassen. Am wichtigsten waren die Bücher von Annie Ernaux. Ich glaube, dass Bücher wie diese erst jetzt ein breites deutschsprachiges Publikum erreichen, weil hierzulande lange niemand von Klassen geredet hat. Vorherrschend war das Leistungsmärchen, das besagt: Jeder kann es schaffen oder wir sind alle gleich, je nachdem. Die Literatur dekonstruiert dieses Märchen mit literarischen Mitteln auf ihre ganz eigene Weise.
Studien zeigen immer wieder, dass Aufstiegschancen weiterhin maßgeblich von Einkommen und Bildung der Eltern abhängen, zugleich hängt die Klassenfrage auch mit Sexismus und Rassismus zusammen?
Daniela Dröscher: Ich persönlich habe angefangen, mit der Kategorie Klasse zu arbeiten, weil ich für mich selbst die Zerwürfnisse in meiner eigenen Familie verstehen wollte. Zugleich hatte und habe ich die Hoffnung, dass die Klassenfrage uns über Unterschiede hinweg verbinden kann. Auch in den politischen Kämpfen gegen Rassismus und Sexismus spielen Ökonomie und Zugang zu Bildung ja eine entscheidende Rolle. Das Bild vom „Feminismus der 99%“ versucht das griffig zu vermitteln. Also es nützt nichts, wenn gebildete weiße Frauen von dem System profitieren und in Führungsebenen aufsteigen. Man muss das System Stück für Stück umbauen. Ein Vektor dafür ist die feministische Ökonomie, die versucht, die Dimension der Care-Arbeit in den Mittelpunkt zu rücken, als Grundlage von allem und allen.
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert gibt es sogenannte Bildungs- und Entwicklungsromane. Bildungs- und sozialer Aufstieg galten als normal und erstrebenswert. Was hat sich geändert?
Daniela Dröscher: Ich glaube, dass es das Heroische ist, dem die Menschen gelernt haben, zu misstrauen. Das Leistungsmärchen hat seine Grenzen erreicht, weil inzwischen sehr viele Menschen verstanden haben, dass es nicht reicht, wenn man sich anstrengt. Wir leben in einer „Erbengesellschaft“, wie Julia Friedrichs es nennt. Auch geht es ja zumindest für ein linkes Herz nicht darum, dass man es als Einzelne:r schafft. Es geht darum, zu verstehen, dass das System, in dem wir leben, notwendig ein Oben und ein Unten und vor allem auch eine Mitte braucht, die diesen Gegensatz abpudert. Alle können in diesem System nicht aufsteigen, das ist nicht erwünscht. Meinem Dafürhalten nach ist es deshalb wichtig, Aufstiegsgeschichten „postheroisch“ zu erzählen, um eine Formulierung von Ursula K. LeGuin zu gebrauchen. Nicht mit dem Fokus auf meine eigene heldenhafte Leistung, sondern auf die Frage: Welche Strukturen lassen sich an dieser subjektiven Sicht entziffern? Wieviel Glück, Zufall etc. haben diesen Weg begünstigt, welche Faktoren ihn erschwert?
Wir proben gerade Mach es gut! über eine Frau, die aus Polen kam und in Deutschland ein Leben lang schuftete, putzte und pflegte und am Ende dennoch ohne Rente dasteht.
Daniela Dröscher: Ja, wir reden oft über Zugänge, Bildung, Schulen. Das ist richtig und wichtig. Am anderen Ende wartet das Thema Altersarmut. Gerade bei migrantisierten alleinstehenden Müttern, die also zusätzlich zur Lohnarbeit noch unbezahlte Care-Arbeit leisten, sieht es da ziemlich schlimm aus.
Hast du Empfehlungen, zum Beispiel an die Politik?
Daniela Dröscher: Ich empfehle allen, die es sich leisten können, eine faire Bezahlung und Absicherung der Menschen, die sie in der Kinderbetreuung und im Haushalt unterstützen. Von der Politik fordere ich, was das angeht, nicht weniger als eine Umverteilung der Rentenpunkte.
Dein Buch über deine Mutter scheint emanzipatorische Kraft zu haben, du berichtest von Leserinnen, die sich nach der Lektüre getrennt haben. Macht dich das stolz?
Daniela Dröscher: In erster Linie erstaunt es mich. Und es erinnert mich daran, dass es manchmal dieses eine Kunstwerk sein kann, das eine lebensverändernde Entscheidung herbeiführt. Ich selbst habe einmal eine langjährige Beziehung nach einem Kinofilm beendet. Also direkt im Anschluss, ohne zu überlegen. Ich musste bei den Diskussionen oft an Adornos Begriff der „Negativität der Kunst“ denken. Ein Buch kann, indem es die Unmöglichkeit einer persönlicher Befreiung darstellt, gerade deshalb in Leser:innen bewirken, dass sie selbst diesen Schritt in die Freiheit wagen. Das kommt mir manchmal in den Diskussionen, in denen es darum geht, dass Kunst auch „Vorbildcharakter“ haben soll, zu kurz. Gerade weil die Mutter im Buch lange so unfrei ist, befreie ich mich als Leserin vielleicht umso vehementer.
Identifikation oder Ähnlichkeit kann helfen?
Daniela Dröscher: Für mich ist schon viel erreicht, wenn Menschen verstehen, dass sie nicht allein sind mit ihren vermeintlich privaten Kämpfen. Dass diese kleinste soziale Einheit, wie meine Mutter die Familie immer nennt, die Gesellschaft in der Nussschale widerspiegelt.
Du hast die Netzresidenz des virtuellen Literaturhauses Bremen gewonnen. Was machst du hier in Bremen?
Daniela Dröscher: Ich lade Menschen zu einem Audiowalk durch den Bremer Stadtpark ein. Die Arbeit trägt den Titel Kommt in den Park und schaut! Ab dem 16. September hat man die Möglichkeit, sich laufend, gehend und das Auge im Grün mit Fragen von Gerechtigkeit, sozialer Herkunft und Körpern im Stadtraum zu beschäftigen. Es soll aufklären, Spaß machen, beflügeln.
Veröffentlicht am 7. Juni 2023