Die Januar-Kolumne – Das letzte Feuer und die Asche über uns allen
Michael Börgerding über Dea Loher, Elfriede Jelinek und zwei neu angesetzte Produktionen im Schauspiel
Von dem nur noch wenigen Menschen bekannten großen Fußballer Jürgen „Kobra“ Wegmann stammt der schöne Satz „Zuerst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch Pech dazu.“ Mit diesem Satz ließe sich ganz gut unsere Spielzeit im Kleinen Haus beschreiben. Wir haben nämlich seit Beginn dieser Spielzeit dort vier von acht geplanten Schauspiel-Produktionen absagen, verschieben oder verändern müssen. Ich mache ja doch schon ziemlich lange Theater, aber so etwas habe auch ich noch nie erlebt. Die Nachkommende von Ivna Žic mussten wir – nachdem wir es schon in der Spielzeit davor verschieben mussten – aus Long Covid-Gründen gänzlich absagen. Bien Galoper haben wir absagen müssen, weil die Gruppe Gintersdorfer/Klaßen sich nach ihrer letzten gemeinsamen Produktion in Basel nach fast zwanzig Jahren Existenz aufgelöst hat. Wasserwelt. Das Musical von Felix Rothenhäusler haben wir ebenfalls aus Krankheitsgründen verschieben müssen, es wird am 13. September die neue Spielzeit 24/25 eröffnen. Zuletzt mussten wir dann The Hours ersetzen. Wir hatten keine Aufführungsrechte für dieses Projekt nach dem Film The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit von Stephen Daldry nach dem Roman von Michael Cunningham bekommen. Die Geschichte zu diesen Rechten erspare ich Ihnen und uns.
Ersetzt haben wir The Hours mit einem Stück von Dea Loher: Das letzte Feuer. Regie, Besetzung, der Musiker, selbst das Bühnenbild sind geblieben. Mit Das letzte Feuer wurde Dea Loher 2008 als Dramatikerin des Jahres ausgezeichnet und erhielt den Mülheimer Dramatikpreis, es ist ein Stück, das immer wieder gespielt wird, in großen und in kleineren Theatern, zuletzt in Hannover im Schauspielhaus. Bei einer Verfolgungsjagd kommt ein achtjähriger Junge ums Leben. Rabe, ein traumatisierter Ex-Soldat, ist der einzige Zeuge. Susanne und Ludwig verlieren ihr einziges Kind, Karoline hat Krebs und sucht nach Liebe, die alte Rosa ist dement. Ein Drogensüchtiger versucht zu vergessen. Eine Polizistin sucht Vergebung. „Es muss weitergehen. Nicht wahr. Das Klavier muss gespielt werden. Das Brot muss geschnitten werden. Das Herz muss schlagen.“
Die Proben laufen schon seit Mitte Dezember, die Premiere wird am 22. Februar sein. Regie führt Alize Zandwijk, die Das letzte Feuer schon einmal in Rotterdam gemacht hat und seit 15 Jahren über niederländische Erstaufführungen in Rotterdam (Unschuld, Das letzte Feuer und Diebe), einer Uraufführung in Berlin am Deutschen Theater (Gaunerstück) und mit den Bremer Inszenierungen von Das Leben auf der Praça Roosevelt – die Eröffnungsinszenierung meiner Intendanz im Schauspiel – und Fremdes Haus mit der Arbeit von Dea Loher verbunden ist. Es spielen Annemaaike Bakker, Martin Baum, Karin Enzler, Guido Gallmann, Nadine Geyersbach, Levin Hofmann, Irene Kleinschmidt, Matti Weber und ich bin sehr gespannt auf Alizes zweiten Blick auf dieses Stück.
Wir haben sehr kurzfristig jetzt noch eine neue zusätzliche Produktion angesetzt für den geplanten Zeitraum der Gintersdorfer/Klaßen-Proben. Christiane Pohle, die bei uns gerade Schmerz Camp gemacht hat, wird das neue Stück von Elfriede Jelinek Sonne / Luft inszenieren, die Proben beginnen am 18. März und die Premiere ist auf den 4. Mai 2024 festgelegt. Es spielen Shirin Eissa, Karin Enzler, Nadine Geyersbach, Irene Kleinschmidt und Matthieu Svetchine. Und damit haben wir in allem Unglück die schöne Gelegenheit, Glück im Unglück, zwei Stücke von den vielleicht zwei wichtigsten Dramatikerinnen der letzten Jahrzehnte zeigen zu können. Wobei die eine als Nobelpreisträgerin natürlich weltbekannt ist und die andere vor allem unter Theatermenschen, nicht nur in Deutschland, geschätzt und geliebt wird.
Und eben deswegen war die Aufregung unter diesen Menschen auch groß, als bekannt wurde, dass Dea Loher nach langer Zeit wieder ein großes Stück geschrieben hat. Frau Yamamoto ist noch da entstand im Auftrag des Tokyo Engeki Ensemble TEE, mit dem die Autorin eine langjährige Beziehung verbindet. Die Uraufführung des neuen Stücks ist also in Tokyo für September 2024 geplant, die Europäische Erstaufführung folgt kurz danach in Zürich, bevor im Oktober die erste Inszenierung in Deutschland Premiere haben wird. Wir sind nicht ganz so schnell, werden in diesem Reigen nicht dabei sein, dafür gibt es aber bei uns neben Alize Zandwijk mit Andreas Kriegenburg, seit Mitte der Neunziger ihr Uraufführungsregisseur in Hannover, Hamburg und Berlin, immer bei Ulrich Khuon, in der kommenden Spielzeit einen zweiten Regisseur, der dieses Stück unbedingt machen will. Kommen wird Frau Yamamoto ist noch da also auf jeden Fall, vermutlich wird es aber Alize als Hausregisseurin hier auf der großen Bühne machen und Andreas woanders. Und Andreas macht ein anderes Stück im Mai 2025 im Theater am Goetheplatz. Wie geschrieben: vermutlich. Bisweilen gibt es Situationen, in denen man sich eigentlich nicht entscheiden möchte. Auch Dea Loher hätte ihr Stück im Übrigen gerne von den Beiden bei uns gesehen.
Worum es geht in Frau Yamamoto ist noch da? Dazu vielleicht mehr in der nächsten Spielzeit. Nur so viel jetzt vom Verlag, der es so ankündigt: „In fein miteinander verwobenen Szenen, kleinen Dramen, die zum Beispiel in der Wohnung oder in der Wirtschaft, am Küchenfenster oder in der Klinik, am Flussufer oder im Treppenhaus, im Schwimmbad oder auf dem Friedhof spielen, zeigt das Stück eine Gesellschaft, die zugleich zugänglich und scheu ist, vergnügungssüchtig und angstvoll; Menschen, die bei aller Aktivität Intimität verlernt haben. All das gemeinsame Essengehen, Tanzen oder Angeln nützt nichts, da hilft kein Gold der Welt, am Ende geht man in unterschiedliche Richtungen ab.“
2018 ist im Wallstein Verlag eine sehr schöne gebundene Ausgabe der sechs wichtigsten Stücke von Dea Loher erschienen, ich durfte ein kleines Nachwort schreiben und jetzt zitiere ich mich einmal selbst: „Ambivalenz und Kontingenz: wie lebe ich damit, wie halte ich das aus? Das ist auch eine moralische Frage. Kriegenburg und Loher, Zandwijk und Loher finden in dieser Frage ihre je gemeinsame Arbeitsvoraussetzung. Es ist die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen, die Dringlichkeit der großen individuellen Entscheidung. Entscheidungen, die die Welt meinen. Dazu bedarf es nicht immer der großen Form, auch nicht unbedingt der Tragödie. Dea Loher sucht, so lese ich ‚Diebe‘ oder zuletzt ‚Gaunerstück‘,“ – kleiner Einschub: und so lese ich auch jetzt Frau Yamamoto ist noch da – „im Augenblick eher das Gegenteil der Tragödienstruktur und arbeitet an dem Risiko der Darstellung von Absichtslosigkeit. Aber auch zu diesen Texten und ihren in Szene gesetzten Spielern gehören eine unerlöste Empfindlichkeit und ein sich entwickelndes und reicher werdendes Bewusstsein für die tragischen Situationen unserer Existenz.“
Der Literaturkritiker Lothar Müller hat es in seiner Laudatio zum Berliner Theaterpreis 2009 so formuliert: „Dea Loher will an die Tradition des Theaters als moralische – und darin auch politischer Anstalt – anknüpfen. Moralische Anstalt hieß stets: Anstalt zur Erforschung des Menschen sein. Experimentierfeld und Imaginationsraum, in dem zur Sprache gebracht wird, was ihm zuzutrauen ist. Die Schärfung der Vorstellungskraft dafür, was menschenmöglich ist, ist ein politisches Projekt.“
Elfriede Jelinek traut den Menschen schon sehr lange alles Menschenmögliche und Unmögliche zu. Und bei ihr sprechen immer weniger einzelne Menschen, Personen, Figuren, sondern Chöre, Dinge und jetzt in ihrem letzten Text für das Theater Sonne / Luft die Sonne. Eine Sonne, die brennt. Ohne dass das Wort „Klimawandel“ auch nur einmal fällt, versucht Elfriede Jelinek, wie sie schreibt, Ordnung in die Elemente zu bringen, „und wenn es das letzte ist, was ich tue“. Zwangsläufig landet Jelinek dabei im Chaos, gerät sie wortmächtig an die Grenzen ihrer Sprache, die „naturgemäß“ auch die Grenzen unseres Denkens markiert und den möglichen Weltuntergang kaum fassen kann – dafür aber immerhin das drohende Ende der „Scheusale in Menschengestalt“. „Ein großer Gesang auf das von Menschen verursachte Verlöschen der Natur“, schreibt der SPIEGEL. Und Theater heute meint: „In einem rasenden Textsturz arbeitet sich (Jelineks) Sonnengöttin durch die finalen Merkwürdigkeiten unter ihr. Alle wissen Bescheid, was kommen wird – und machen doch im Großen und Ganzen weiter wie bisher.“
Elfriede Jelinek hat nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 auf ihrer Homepage alle ihre Texte gelöscht und nur noch einen Text von ihr stehen lassen: Kein Einer und kein Andrer mehr. Darin heißt es gleich zu Beginn: „Ja, Ernst Jandl: Humanitääääät, die könnten wir schon ein bisserl brauchen. Seit dem Überfall der Hamas weiß ich nicht mehr, was das sein soll. Sie wird zu einem Stück Papier, auf dem vieles Gute und Schöne aufgeschrieben und dann angezündet wurde.“ Und weiter: „Wenn es aber nur noch ein Ziel gibt, für das die Vernichtung des Anderen steht, wie die Terrororganisation Hamas sie gegen Israel plant und immer geplant hat — und andre Gedanken haben neben diesem Ziel keinen Platz in ihren Köpfen —, dann gibt es auch den Einen nicht mehr. Und wenn es den Einen wie den Anderen nicht mehr gibt, so ist die Zivilisation am Ende.“ Und zum Schluss heißt es in diesem zutiefst verstörenden Text: „Jetzt ist jedes Gegenüber verfallen zu Asche, die zwischen den beiden Händen eines Gottes, den es nicht gibt, und wenn man sich noch so oft auf ihn beruft (man beruft sich am liebsten auf ihn, wenn man den Anderen nichts als zerstören will), zerrieben wird, Asche, über uns alle ausgestreut, bis der Wind sie verbläst. Über unsere Köpfe hinweg. Wir sehen nur, wie der schwarze Rauch davongeweht wird und der Schrecken übrigbleibt.“ (www.elfriedejelinek.com)
Veröffentlicht am 3. Januar 2024