Das Mai-Editorial: „Corona-Pause“, was für ein schrecklicher Euphemismus
Michael Börgerding über SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards für den Probenbetrieb, Risikoeinschätzungen und einen ersehnten Spielstart im September
„Haltet Abstand von mir oder ich sterbe, oder ich morde, oder ich morde mich selber. Abstand – um Gottes Willen.“ Ingeborg Bachmann
„Abstand, um Gottes willen Abstand!“ Bertolt Brecht
Die Fachzeitschrift Theater heute weiß, dass es nur eine Corona-Pause ist, die die Theater betrifft, und bittet Theatermenschen um grundsätzliche Antworten auf große Fragen: „Souverän ist nicht, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Souverän ist, wer die Zeit nach der Krise neu zu entwerfen versteht. Nehmen wir die Corona-Pause als Chance, ein wenig grundsätzlicher nachzudenken: Was muss bestehen bleiben, was soll sich ändern – in und außerhalb des Theaters?
Die Antwort bitte möglichst bis 4000 Zeichen, Redaktionsschluss für unser Jahrbuch ist der 16. Juni.“
Während Frank Castorf glaubt, dass man, wenn man am Theater arbeite, sich die Bereitschaft zum Fantasieren, zum Nachdenken über das, was außerhalb geschieht, erhalte und sich nicht von Frau Merkel sagen lassen will, dass er sich die Hände zu waschen habe, und sein Kollege aus Gent, Milo Rau, der „einflussreichste, ausgezeichnetste, interessanteste und ambitionierteste Künstler unserer Zeit“ (laut Programmheftdramaturgie), meint, Corona sei die Krankheit des alten weißen Mannes und der Stillstand der Welt erfülle ihn mit Euphorie und Hoffnung: „Wenn wir diese Lektion nicht lernen, sind wir gefickt“, während man also von Theatermenschen nicht immer wirklich Überzeugendes zu lesen bekommt, beschäftigen wir uns hier mit Gesetzesblättern, Verordnungen, SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards zum Probenbetrieb der gesetzlichen Unfallkasse und Risikoeinschätzungen einer Coronavirus-Infektion im Bereich Gesang.
Die Gesetzeslage in Bremen ist sehr klar – zumindest bis zum 20. Mai. Solange gilt die „Zweite Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2
(Zweite Coronaverordnung)“ vom 6. Mai 2020. Bis dahin gilt: „Folgende Einrichtungen dürfen nicht für den Publikumsverkehr geöffnet werden: Kinos, Theater, Opern, Konzerthäuser.“ Arbeiten dürfen wir aber: „für den Publikumsverkehr geschlossene Einrichtungen dürfen aus beruflich bedingten Gründen betreten werden“.
Seit zehn Tagen wissen wir jetzt, unter welchen Bedingungen wir arbeiten bzw. probieren dürfen. Die gesetzliche Unfallkasse hat eine verbindliche „Handlungshilfe für die Branche Bühnen und Studios im Bereich: Probenbetrieb“ vorgelegt. Darin heißt es: „Insbesondere die Kulturschaffenden der darstellenden Kunst können aufgrund notwendiger Kontaktbeschränkungen bis auf Weiteres nicht mehr in gewohnter Art und Weise tätig sein. Ohne Bewertung der Gefährdung durch Corona sind nicht mehr alle vor und in der Pandemie geplanten Konzepte und Produktionen, wie vereinbart, zu realisieren. Um den Betrieb wieder, wenn auch eventuell eingeschränkt, zu ermöglichen ist ein betriebliches Konzept zu erstellen.“ Das haben wir in den letzten Tagen getan, zusammen mit dem Betriebsarzt, unserem Sicherheitsbeauftragten, dem Betriebsrat und den Abteilungsleiter*innen.
Das wichtigste: Abstandsregelungen. Alle Mitwirkenden müssen mindestens 1,5 m Abstand zu anderen Personen halten. Bei singenden oder exzessiv sprechenden Personen ist ein Abstand von mindestens 6 m einzuhalten.
Die Größe der Probenräume richtet sich nach der Zahl der gleichzeitig anwesenden Personen. Pro Person müssen mindestens 20 m² Grundfläche zur Verfügung stehen. Was bei den großen Probebühnen zwölf Menschen (Spieler*innen und Regieteam), bei den kleinen acht Menschen bedeutet. Für Musikerprobenräume gilt zusätzlich:
Musiker*innen mit Blasinstrumenten müssen in Blasrichtung mindestens 12 m Abstand zur nächsten Person einhalten, in den anderen Richtungen mindestens 3 m. Des Weiteren gelten strenge Hygieneregeln, im Tanz zum Beispiel: Es müssen im Proberaum mindestens stündliche Reinigungen des Fußbodens und aller mit den Händen berührten Teile durchgeführt werden.
Was das konkret bedeuten wird, werden wir in den nächsten Wochen sehen – im Augenblick bereiten wir uns auf einen Probenbeginn im Schauspiel unter diesen Bedingungen ab Anfang Juni vor. Die Werkstätten arbeiten seit dieser Woche wieder, die Probenbühnen werden vorbereitet, die ersten Bauproben finden in der nächsten Woche statt. An Proben im Musiktheater ist im Augenblick nicht zu denken – allerdings haben wir jetzt die zwei großen Probebühnen für Korrepetition vorbereitet, um den Sicherheitsabstand zwischen Pianist*in und Sänger*in zu gewährleisten. An eine Wiederaufnahme der Arbeit mit unserem Chor ist überhaupt nicht zu denken. In einer „Risikoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Gesang“ vom Freiburger Institut für Musikermedizin, Universitätsklinikum und Hochschule für Musik Freiburg heißt es: „Bereits in kleinen Chorformationen von mehr als 5 Sänger*innen, aber erst recht in größeren Chorformationen ist davon auszugehen, dass sich das Infektionsrisiko durch die im Raum befindliche Durchmischung und den Austausch von Aerosolen, die virusbelastet sein könnten, potenziert. Hier müsste eine Corona-Infektion vor einer Chorprobe bei allen Beteiligten sicher ausgeschlossen sein, was zum jetzigen Zeitpunkt technisch nicht realisierbar ist. Deshalb sollten aus unserer Sicht Chorproben bis auf weiteres nicht erfolgen.“ Bis auf weiteres ... Und ob ein Orchester bei uns in absehbarer Zeit wieder im Graben sitzen wird oder verkleinert mit oder ohne Mundschutz auf der Bühne, ist eine Frage, mit der wir uns im Augenblick eher beschäftigen sollten als mit Visionen nach einer „Corona-Pause“ (was als Wort ein schrecklicher Euphemismus ist).
Wir werden also den Probenbetrieb wieder starten – unter den oben beschriebenen Bedingungen und klar ist, es wird ein anderes Arbeiten sein, als wir es gekannt haben. Und es wird ein anderes Theater sein, das wir Ihnen zeigen werden ab September: sicher „ein armes und ein reduziertes“, wie die Süddeutsche Zeitung heute schrieb und optimistisch meinte: „Aber deshalb nicht unbedingt ein schlechteres.“ Ich bin da weniger optimistisch und wäre eher bei meinem Kollegen Christian Stückl, der gerade ein Corona-Konzept für sein Volkstheater in München vorgestellt hat: Aus dem Zuschauerraum wird jede zweite Reihe entfernt, in den verbleibenden wird nur jeder vierte Platz besetzt. Das bringt Platz für hundert Zuschauer*innen − derzeit hat das Volkstheater 600 Plätze. Ebenso könne man sich eine Bespielung des Gartens mit etwa 50 Zuschauer*innen vorstellen. Die Aufführungen werden etwa eine Stunde dauern, keine Pause haben, könnten auch, um mehr Menschen zu erfreuen, mehrmals hintereinander gespielt werden. Mit fünf Produktionen will Stückl eröffnen, alle sollen „Corona-tauglich“ sein. „Vielleicht werden die Corona-Aufführungen auch furchtbar fad“ – meint Stückl, aber probieren will er es. Wie wir. Unbedingt. Auch unter diesen Bedingungen.