Das „Musiktheater-Monster“ Richard Wagner

Notizen aus der Konzeptionsprobe mit Regisseur Frank Hilbrich zu Lohengrin. Ein Text von Frederike Krüger.

„Ich freue mich auf eine große Kraftanstrengung, die vor uns liegt. Auf das ‚Musiktheater-Monster‘ Richard Wagner“. Es ist der 11. Juni, eine Probebühne im Theater am Goetheplatz, Konzeptionsprobe. Zwischen sechs und acht Wochen vor einer Premiere kommen die meisten der an der Produktion Beteiligten zusammen und beginnen: mit dem Proben, dem Ausprobieren im besten Sinne, fast jeden Tag – vormittags und abends – wird gespielt, reflektiert, verhandelt, probiert, verändert, gespielt, reflektiert … In diesem Fall geht es dabei um ein Werk monumentalen Ausmaßes, oder eben ein „Musiktheater-Monster“, wie Regisseur Frank Hilbrich es nicht ganz unpassend formuliert.  

Denn es geht um eine „wirklich monströse Gestalt in unserer Musiktheaterwelt. Ein Komponist, der polarisiert.“

Richard Wagner ist gemeint und mit ihm sein von einem Schwan gezogener Held, dessen Name nicht genannt respektive erfragt werden darf. „Richard Wagner ist ein Komponist, der einen vor Glück und Begeisterung in die Knie zwingt. Der für die ästhetische Wahrnehmung so prägend war wie nur ganz wenige Menschen in der Geschichte. Ein Künstler, dessen Musik eine unfassbare Wirkkraft besitzt. Aber Wagner ist auch ein Komponist, der sich selbst zu einer merkwürdigen, sagenhaften Gestalt verklärte oder zumindest viel dazu beitrug. Denn bei all der Schönheit und auch Genialität, die seine Musik mit sich bringt, kommt man nicht umhin, die grausamen und menschenverachtenden Seiten Wagners zu entdecken. Der Antisemitismus Richard Wagners ist schlicht unerträglich und da gibt es auch gar nichts zu beschönigen.“

Wie also umgehen mit einem Menschen, der zwar ein großer Künstler war, aber auch zutiefst problematische Weltbilder vertrat?

Gerade jetzt, angesichts sich radikalisierender politisch rechter Kräfte und der Zunahme antisemitischer Gewalt (2023 wurden bei der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) insgesamt 4.782 antisemitische Vorfälle dokumentiert, ein Anstieg um fast 83 Prozent im Vergleich zum Vorjahr). Die (zeitlose) Frage und Debatte um die Trennung von Künstler und Werk scheint dieser Tage eine andere Dimension zu bekommen. Gelinde gesagt. Was erfordert die Arbeit an dem Werk und der Musik eines Künstlers, der zwar rund fünfzig Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten starb, dessen Parolen aber durchaus als Stichwortgeber und geistige Brandbeschleuniger zu lesen sein können, an Sensibilität und Haltung? „Man könnte versuchen, das Werk von der Person Richard Wagner zu trennen“, sagt Frank Hilbrich und fährt fort: „Ich glaube, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt unterschiedliche Positionen zu der Frage, wie und ob man das Werk von seinem Urheber trennen kann. Meiner Meinung nach ist keines seiner Stücke ohne die Biografie Wagners denkbar.“

Damit scheint die Herausforderung klar: Sich der Problematik Wagners bewusst zu sein, die historischen wie politischen (und ideologischen) Umstände der Entstehungszeit zu kennen, damit diese nicht reproduziert werden und weitere Feuer entfachen.

Dabei offenbart der Blick in die Biografie des Komponisten eine gleichermaßen menschliche wie gefährliche Hybris: 1813 wird Richard Wagner geboren, direkt in die Befreiungskriege hinein. Der Kanonenlärm, der für Napoleon Bonaparte das politische Ende ankündigte, muss noch nachgehallt haben, als der Tonsetzer in Leipzig das Licht der Welt erblickt. Wagner wächst also in einer durch und durch politisierten Welt heran. Während seiner ersten Arbeit bei seinem Schwager Friedrich Brockhaus (ja, der Lexikon-Brockhaus), setzt er sich mit Geschichte auseinander, mit dem Mittelalter und intensiv mit der Französischen Revolution. Später erinnert er sich an die Auseinandersetzung mit der Juli-Revolution von 1830 und hält in einem seiner Tagebücher fest: „Mit Bewusstsein plötzlich in einer Zeit zu leben, in welcher solche Dinge vorfielen, musste natürlich auf den siebzehnjährigen Jüngling von außerordentlichem Eindruck sein. Die geschichtliche Welt begann für mich von diesem Tage an; und natürlich nahm ich volle Partei für die Revolution …“ Wagner findet in der Bewegung „Junges Deutschland“ eine politische Heimat und setzt sich dort u. a. gegen staatliche Zensur ein. Auch in der bürgerlichen Revolution von 1848/1849 identifiziert er sich (noch) mit ihren demokratischen Werten und Visionen. Er verteilt Flugblätter, hilft wahrscheinlich auch bei der Beschaffung von Handgranaten. Schließlich wird er als Aufrührer steckbrieflich gesucht und geht ins Schweizer Exil. In seinen Schriften spiegelt sich seine Haltung gegen den Staat und für die Revolution wider, Die Kunst und die Revolution erscheint 1849.

Doch mit Dresden lässt er zusehends auch seine politische Haltung im Sinne der Aufklärung hinter sich. Sein neuer Freund? Der einstige Feind: Nationalismus.

Es gibt Stimmen, die in Wagner nicht nur einen großen Komponisten sehen, sondern auch einen sich um die eigene Achse drehenden, wohl kalkulierenden Künstler, der die Zeichen der Zeit lesen und zu seinem eigenen Vorteil nutzen konnte. In diesem Fall bedeutet dies: sich vom bayerischen König Ludwig II. mäzenieren lassen (ab 1864). Möglicherweise gibt Wagner sich vorerst der Illusion hin, nicht nur als Künstler, sondern auch als politischer Berater auf eine humanistischere Verfasstheit von Staat und Gesellschaft hinwirken zu können. Nun ja … Zurück zur Hybris: Auf realpolitischer Ebene setzt sich Wagner einerseits weiterhin kritisch mit der Verbindung von „Staat“, „Volk“ und „Kapital“ auseinander (er preist beispielsweise weiterhin Michail Bakunin, den anarchistischen Weggefährten aus der Dresdner Zeit, als „wilden und noblen Kerl“). Andererseits offenbaren seine kulturphilosophischen Spätschriften den Eindruck eines reaktionären und chauvinistischen Geists. Bis zuletzt beharrt er auf seinen antisemitischen Ressentiments, deren Ursprünge gerne nicht nur im Geist der Zeit gesehen werden (als ob es das relativierte?), sondern auch u. a. in einer persönlichen Fehde mit dem Komponisten Giacomo Meyerbeer. Dieser Komponist jüdischer Herkunft soll der Hauptgrund für Wagners Scheitern in der Pariser Kunstszene gewesen sein, damaliges westeuropäisches Zentrum der schönen Künste.

War Wagners Antisemitismus also nur Mittel zum persönlichen Zweck? Wohl kaum.

„Die politischen Schriften, die Wagner vor allem ab den 1870er Jahren verfasste, möchte man eigentlich vergessen. Darf man aber nicht. Sie stehen auch in einem eklatanten Widerspruch zu Wagners Taten. So arbeitete er sehr eng mit jüdischen Kollegen, beispielsweise mit dem jüdischen Dirigenten Hermann Levi, der seinen ‚Parsifal‘ bei den Bayreuther Festspielen zur Uraufführung brachte.“ So Frank Hilbrich. Und was dann? „Wagner ist für mich ein Meister der Widersprüche und der Dialektik. Was er an Widersprüchen lebt und äußert, weist über ihn als Person hinaus. In ihm und seinen Opern kommen Widersprüche und eine Zerrissenheit zum Ausdruck, die bis heute relevant und aufschlussreich sind. Ich möchte ihn und die Rezeption seiner Werke nicht schönreden, sondern ganz genau hinschauen, nicht nur auf die Schönheit, sondern auf die Kraft seiner Musik und seiner Stücke vertrauen, die feindliche Menschenbilder und autokratische Systeme dabei vielleicht eher entlarven als bestätigen.“

Was bedeutet das im Falle von Lohengrin, dieses zuerst namenlosen Mannes, der Held und Heilsbringer in einem sein soll für die zerrüttete und führungslose Gesellschaft in Brabant?

„Dieses Stück ist für mich das widersprüchlichste überhaupt und in dieser Widersprüchlichkeit eben auch das vielleicht interessanteste und schillerndste Stück von Wagner.“ Und gilt manchen auch als Vollendung der romantischen Oper. „Manche sagen, es sei die letzte romantische Oper, die Wagner geschrieben hat. Manche sagen sogar, es sei das größte Kunstwerk der Romantik überhaupt. Das möchte ich nicht entscheiden, ob das wirklich stimmt. Aber sicherlich hat Wagner da etwas ganz Besonderes verdichtet: Es könnte vielleicht den Höhepunkt einer Epoche markieren und gleichzeitig den Aufbruch in die Moderne, in die Zukunft zeigen.“ Mit diesem Stück beginnt Wagner das Musikdrama, Text und Musik gehen eine untrennbare Verbindung und Deutungssymbiose ein. „Und es ist ein Werk, das eben auch in seiner Geschichte ganz deutlich wie eine Prophezeiung wirken könnte.“ Was beinhaltet diese? „Das Gefühl eines missverstandenen Künstlers, eine Parallele zu Wagners eigener Biografie. Die Ablehnung, die er in Paris erfuhr, lässt sich auf die Figur des Lohengrin übertragen. Bei Wolfgang von Eschenbach fand Wagner die Geschichte des Schwanenritters. Die sagenhaften Landschaften, die er sich bei seinen Wanderungen durch Dresden erschloss, taten ihr Übriges. Diese Sagen verwoben sich immer mehr mit der Gegenwart, aber auch mit Wagners Zukunftsfantasien. Und der allgemeinen, so typisch für die Romantik, Sehnsucht nach einer unerreichbaren Welt.“ Einer Utopie? „Für mich ist Lohengrin ein Stück über die Unerreichbarkeit menschlicher, gesellschaftlicher Ideale. Es ist die Parabel über einen Sehnsuchtsort, an den es die Menschheit immer wieder hinzieht und wo sie doch nie hinkommt. Es zeigt die Suche nach gesellschaftlicher Utopie und ihr Scheitern am Menschen selbst.“

 

 

Veröffentlicht am 28. Juni 2024