Das November-Editorial: Gewitter in Zeitlupe
Die Zeit scheint stillzustehen und doch sind wir so erschöpft. Michael Börgerding über Theater ohne Gewähr.
Wie oft hat man diesen Satz schon gehört: „Alle Angaben sind, wie immer, ohne Gewähr“? Er gehört in das Inventar der alten Bundesrepublik, natürlich zu der Ziehung der Lottozahlen bzw. für mich persönlich zum Aktuellen Sportstudio, wo ich mich als Kind fragte, was ein „Gewehr“ denn mit den Lottozahlen zu tun habe und lernte, dass eine „Gewähr“ doch etwas anderes ist. Nämlich eine Gewährleistung bzw. das Einstehenmüssen für eine nicht erbrachte Leistung – so heißt es im deutschen Schuldrecht. Und so lautet unsere Gewährleistung für den November: „Eintrittskarten für entfallene Vorstellungen können umgetauscht werden. Sollten Sie jedoch eine Rückerstattung wünschen, benötigen wir dazu die entsprechende Auftragsnummer, eine Bankverbindung und bitten um Übermittlung dieser Daten per E-Mail. Sollten Sie die Bezahlung per PayPal vorgenommen haben, ist dies nicht erforderlich, da die Rückerstattung auf das für die Zahlung verwendete PayPal-Konto automatisch erfolgt.“
Es kann sein, dass wir auch im Dezember Inszenierungen, die wir auf dieser Homepage tagesaktuell veröffentlichen und im Monatsleporello für den Dezember gedruckt haben, nicht „gewährleisten“ können. Weil wir gar nicht spielen dürfen. Oder nur sehr eingeschränkt. Aber noch gehen wir davon aus oder hoffen wir – berufsbedingt optimistisch –, dass wir uns im Dezember wiedersehen. Und dass wir die ausgefallenen Premieren des Novembers nachholen können. Natürlich planen wir diese Termine, fragen Gäste ab, disponieren Proben und sprechen mit den Teams. Aber wenn wir ehrlich sind, ist der berufsbedingte Optimismus schon ziemlich angegriffen. Dieser zweite Lockdown war und ist ein kräftiger Schuss gegen den Bug, gar nicht so sehr in der Planung des Monats Dezember, sondern einer, der unsere ganzen Überlegungen für die Spielzeit 21/22 betrifft. Sollen wir weiter einfach so tun, als könnten wir in der nächsten Spielzeit so weiter machen wie vor Corona – also zum Beispiel die große Oper vor 800 Menschen spielen mit großer Orchesterbesetzung im Orchestergraben? Und dafür tatsächlich schon Absprachen treffen mit Regieteams, Dirigenten (ohne Sternchen – leider!) und den Bremer Philharmonikern? Was wir eigentlich bis Ende des Jahres getan haben sollten.
Von Heiner Müller gibt es den schönen, bösen Satz, dass Optimismus nichts anderes als Mangel an Information sei. Wobei ich nicht glaube, dass irgendjemand uns Informationen vorenthält. Ganz im Gegenteil: Wir wissen so viel über diesen Virus und seine Verbreitung, wir wissen so viel über Hygiene, über Aerosole, über Klimaanlagen und Stoßlüften. Wie die Zahlen gestern waren und morgen wahrscheinlich sein werden. Sondersendungen, Corona-Live-Ticker und Pressekonferenzen. Kein Gespräch ohne neueste Informationen, Hintergrundwissen und vor allem Meinung. Lauter Expertinnen und Experten. Und wir mittendrin und das sehr erschöpft.
Mangelnde Information ist also nicht das Problem. Und doch: Niemand weiß heute, wie es weitergehen wird in und mit dieser Pandemie, die der Virologe Christian Drosten eine „Naturkatastrophe in Zeitlupe“ nannte. Jetzt, mehr als ein halbes Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie und in der ersten Woche des neuen Lockdowns, lernen wir zu verstehen, was der Begriff Zeitlupe meint, nämlich nicht das „Rumms“ eines Erdbebens, bei dem man anschließend wieder etwas aufbauen kann, sondern Ansteckung, und zwar eine Ansteckung nach der anderen Ansteckung, weltweit und exponentiell. Zugleich beobachten wir gebannt den verzweifelten Versuch einer Abbremsung der Virusverbreitung. Die Katastrophe wird in eine Kette von Einzelschritten zerlegt. Selbst radikale Entscheidungen wie ein Lockdown erzeugen dabei keine schnellen Ergebnisse. Die Langsamkeit schafft Ungeduld und endlose Diskussionen, der zähe Verlauf Hektik und Anspannung. Die Infektionszahlen steigen und fallen und steigen erneut. Wir indessen können nur beobachten, warten und hoffen. Der Autor und Journalist Gustav Seibt, dem ich diese Beschreibung verdanke, hat für diese „Entkopplung von Katastrophe und Plötzlichkeit“, die zu Erschöpfung, Müdigkeit und großer Gereiztheit führt, eine schöne Überschrift gefunden: „Gewitter in Zeitlupe“.
Was hilft in diesen Zeiten der unendlichen Diskussionen, der Sorge, der Anstrengung, des Unmuts? Abstand zu all dem Beschriebenen könnte helfen. Rutger Bregman empfiehlt in seinem Buch Im Grunde gut etwas sehr Einfaches: keine Nachrichten sehen, keine Nachrichten lesen, keine Nachrichten schauen! Das ist sicher nicht durchzuhalten, ich selbst bin weit davon entfernt, aber: warum sie nicht reduzieren auf das Nötige und vor allem: emotional Verarbeitbare? Möglicherweise hilft eine Alternative: das Erzählen und das Zuhören. „Der Erzähler ein Mann, der dem Hörer Rat weiß“, hat Walter Benjamin einmal geschrieben. Auch das Theater erzählt Geschichten, alte Geschichten und neue Geschichten, Erzählungen, die mehr sind als Fakten, Nachrichten, Informationen, pures Wissen. „Pure Vernunft darf niemals siegen, wir brauchen dringend neue Lügen“, heißt es in einem Song von Tocotronic.
Der Lauf der Zeit und die eigene Lebenszeit sind relativ. Und wir entscheiden über letzteres. Seit Montag gibt es keine gemeinsame Zeit im Theater mehr. Das ist traurig, mehr als traurig. Aber angesichts der Infektionszahlen vermutlich richtig. Wir bleiben am Abend zu Hause, reduzieren unsere Kontakte, halten Abstand, und passen auf uns auf. Wir werden wieder für Sie spielen. Ganz sicher. Wir hoffen, schon bald. COME CLOSER SOON!
Der Vorverkaufsstart für die Dezembervorstellungen ist für den 28. November vorgesehen.