Das Oktober-Editorial: Vom Großen im Kleinen

Michael Börgerding über das kleine Theater Bremen und die große Opernwelt

Die Opernwelt ist eine monatlich erscheinende Zeitschrift für Musiktheater. Sie gilt als führendes Fachmagazin in Europa, viele der namhaftesten Musikkritiker*innen des deutschen Sprachraums schreiben für die „Opernwelt“, regelmäßig erscheinen auch Artikel fremdsprachiger Autoren. Die Auflage liegt zwar bei nur 10.000 Exemplaren, aber die Reichweite wird weit höher liegen: Hier im Theater geht das Aboexemplar alleine durch zwanzig Hände, bis es archiviert wird. Nicht anders wird es in anderen Opernhäusern und Kulturredaktionen sein. Zusätzlich wird jeweils im Oktober ein Jahrbuch herausgegeben. Es hat knapp 150 Seiten, viele kluge Texte, tolle Bilder und kostet dafür auch stolze 35 Euro. Jedes Jahr veranstaltet Opernwelt zudem eine Umfrage unter europäischen Opernkritiker*innen und veröffentlicht in diesem Jahresheft die „Sieger*innen“ für die zurückliegende Spielzeit: das „Opernhaus des Jahres“, die „Aufführung des Jahres“ oder die „Sänger*in des Jahres“.

Die Opernwelt ist nicht nur eine Zeitschrift, sie ist auch ein bisschen Kult unter Fans und zugleich ein Distinktionsmittel derer, die wissen, was angesagt ist, und die in der großen Welt der Oper zu Hause sind. Die Opernwelt wird natürlich auch nicht gelesen – vor allem von denen, die nicht vorkommen in dieser Welt der teuren Stars und der kritischen Geister, der Opernliebhaber*innen und Regietheaterverteidiger*innen, der Sängerinnen, Dirigenten, Regisseurinnen und Kritiker. Es gibt Momente, da kenne ich diese Zeitschrift gar nicht. Wenn sie mal wieder die Aufführung des Jahres bei uns nicht erkannt hat. Zum Beispiel. Warum sollte ich da anders sein als andere Opernintendanten?

In diesem Jahr wurde die Opernwelt 60 Jahre alt und fragte „Wozu Musikkritik?“. „Kritik tut not“, ist die Antwort der Musikwissenschaftlerin Silke Leopold. Der Komponist Detlef Glanert wünscht sich Kritik „gegen den Zeitgeist“, der Regisseur David Pountney fordert „Schafft Neues!“ und der Musikmanager Sebastian Sollte schlicht „Qualitätskontrolle“. „Echo der anderen“ und „Widerpart und Katalysator“ sind Stichwörter der Komponistin Brigitta Muntendorf und von Dietmar Schwarz, Intendant der Deutschen Oper. Die formulierten Ansprüche der Künstler*innen an die Kritik sind hoch und die Musikkritik oder Musiktheaterkritik wird dem sicher nicht immer gerecht. Aber die Opernwelt versucht, und das ist ihr hoch anzurechnen und sicher ihre wichtigste Funktion, den offenen Diskurs mit der Community weiter aufrecht zu halten. Und zu diesem intellektuellen, argumentativen Diskurs gehört natürlich auch die subjektive Bewertung, die Entdeckung, die Begeisterung, die Bewunderung und das Lob. Und bisweilen auch die eigene Eitelkeit als Kritiker*in. Man definiert sich über das, was man gut findet. Auch über das, was man nicht mag.

So kann man also die Ranglisten der 43 Kritiker*innen, die in diesem Jahr ihre Voten abgeben durften, auch als persönliche Steckbriefe und Selbstanzeigen lesen. Was durchaus als Leser ein Vergnügen ist. Dabei waren in diesem Jahr u. a. fünf Kritiker*innen aus München, fünf aus Berlin, drei aus London, je drei aus der Schweiz und Österreich, je einer aus Mailand, Moskau, Grenoble, Paris, Venedig, New York und ein Kritiker aus Bremen, Gerhart Asche. Vier von ihnen haben es in der letzten Spielzeit nach Bremen geschafft, immerhin. Mehr aber auch nicht. Leider möchte man sagen, denn diese vier Kritiker haben uns, also das kleine Bremer Theater, gleich mit neun Nennungen geehrt.

Fünf Mal wurde der Don Giovanni genannt, davon zwei Mal die Regisseurin Tatjana Gürbaca, die vom Bremer Gerhart Asche für ihren „an Beckett gemahnenden ‚Don Giovanni‘“ gelobt wurde und von Detlef Brandenburg, der ihre Interpretation von „Don Giovanni und Leporello als trostlos verlotterte Desperados“ würdigt. Für die Titelpartie im Don Giovanni wurde Birger Radde in der Kategorie „Sänger“ von Joachim Lange ausgewählt, und Ka Eun Kim als „Nachwuchskünstlerin“ für ihre Zerlina von Jan Brachmann von der FAZ. Die fünfte Nennung bekommt der Don Giovanni für die Kostüme von Silke Willrett.

Der Rosenkavalier in der Musikalischen Leitung von Yoel Gamzou und der Regie von Frank Hilbrich hat ebenfalls mehrere Nennungen bekommen: Einmal Hilbrich selbst als Regisseur und weiter Patrick Zielke, der Detlef Brandenburg in der Kategorie „Sänger“ mit seinem Baron Ochs überzeugte. Last but not least wurde Nathalie Mittelbach, die den Octavian sang, in der Kategorie „Nachwuchskünstler*innen“ als „stilsicherer junger Mezzo mit explosivem Spieltemperament“ genannt.

Die erstaunlichste Nennung war aber sicher die als „Opernhaus des Jahres“ von Detlef Brandenburg, dem Chefredakteur der Deutschen Bühne. Das ist ganz sicher ein Statement, das mehr will als nur ein kleines Opernhaus zu ehren. Brandenburg ist ein Kritiker, der alle großen Häuser und Festivals kennt, aber auch kleinere Häuser kontinuierlich begleitet und besucht, und deren Programmatik, Innovation und deren Mut er immer wieder beispielhaft aufführt, wenn es darum geht, wie man diese alte Kunstform neu erfinden kann. Mit der Nennung der Boris-Aufführung der Staatsoper Stuttgart als „Uraufführung des Jahres“ ehrt er auch einen Regisseur und einen Dirigenten, die in Bremen nicht ganz unbekannt sind: Paul-Georg Dittrich und Titus Engel. Dass Titus Engel gemeinsam mit Kirill Petrenko zum Dirigenten des Jahres gewählt worden ist, freut mich besonders. Offenbachs Die Banditen, Herbert Fritsch‘ heiß diskutierte Inszenierung zu Beginn meiner Intendanz in Bremen, war sein letztes Dirigat in Bremen und das sicher unvergessen – auch sein Auftritt als Spieler auf der Bühne. Wie schade, dass ihn nicht alle so in Bremen halten wollten wie wir.

Wie ernst man solche Rankings nehmen sollte oder nehmen kann, bleibt Ihnen überlassen. Mich bestätigen diese Nennungen sehr in meinem Blick auf die letzte Vor-Corona-Spielzeit im Musiktheater, die mit Der Rosenkavalier, Don Giovanni, Alcina und Jakob Lenz vier herausragende, eigenwillige und besondere Inszenierungen herausbrachte. Umso bitterer der Abbruch der Spielzeit am Tag der Generalprobe von Falstaff, eine Arbeit die ganz sicher in diese Reihe gepasst hätte. Jetzt muss man, so fühlt es sich jedenfalls an, wieder ganz von vorne anfangen. Ich hoffe, dass dem nicht so ist. Und wir wieder Anschlüsse finden – an unsere Arbeit vor Corona und an unser Publikum.