Das Sommer-Editorial

Michael Börgerding über das Glück der Routinen.

Istanbul und Die Italienerin in Algier im Theatergarten in den Wallanlagen, King Arthur – Teil 1 und sechs Wochen lang Common Ground – umsonst und draußen – auf dem Goetheplatz. Unser Theatersommer – unter freiem Himmel, vor, neben und hinter wachsenden Büschen, mit lebenden Tieren zu Füßen wie in den Bäumen, im Nieselregen oder in der prallen Sonne, mit Kopfhörern oder begleitet von Straßenbahngeräuschen und Autoposern – war sehr schön, spannend und erlebnisreich. Ich hoffe, nicht nur für uns!

Aber diese Wochen waren nicht unanstrengend. Es war wie ein Gastspiel in einer fremden Stadt. Es gab und gibt keine Routine. Und das nach einer 15monatigen Corona-Pause. Wie viel man verlernen kann! Jede und jeder von uns hat es an sich selbst feststellen können, die Spielerinnen wie die Techniker, die Einlassdamen wie der Intendant. Wie haben wir das noch immer gemacht? Und wie haben wir eigentlich früher Großproduktionen wie Lady Macbeth von Mszenk hingekriegt und warum diskutieren wir jetzt stundenlang über einfachste Dinge? Die Antwort des Technischen Direktors: weil wir das eine können und das andere täglich neu zu erfinden ist. Statt wieder den Blick auf den Wochenplan oder den Tagesplan (oder gar Dienstpläne) zu werfen – was vieles einfacher gemacht hätte –, habe ich in Wetter-Apps und Corona-Verordnungen geschaut, um zu sehen, was wir morgen oder übermorgen anders machen können, als wir gestern geplant haben. Und doch, ich wiederhole mich: Es hat Spaß gemacht und die Kolleginnen und Kollegen haben mich freundlich ausgehalten. Wir sehen uns im nächsten Sommer wieder – im Theatergarten und auf dem Goetheplatz! Mit ein bisschen mehr Erfahrung und wenig mehr Wissen. Und genauso großer Freude am Improvisieren wie in diesem Jahr.

Spätestens im September aber wird es Zeit, wieder in die Häuser zu gehen, die Kunst braucht nicht nur frische Luft, die Kunst braucht auch Konzentration, braucht ein Dach über ihrem Kopf. Und das Theater braucht Routine. Das Glück der Routine! Es gibt einen kleinen Text, über zehn Jahre alt, von Armin Petras über den Schauspieler Peter Kurth: „es gibt eine bewegung bei peter die über die jahre geht / sie hat etwas mit erfahrung zu tun und mit lernen / er folgt diesem weg unaufhörlich / für viele nicht sichtbar / peter will immer einfacher werden / klarer / noch mehr an sich ran / das handwerkszeug immer genauer schleifen / bis es mit dem eigenen körper verwächst / peter mit den scherenhänden / er wird es schaffen“.

Routine kommt von dem französischen Wort Route, meint also eigentlich „Wegerfahrung“. Der Duden übersetzt Routine mit „durch längere Erfahrung erworbene Fähigkeit, eine bestimmte Tätigkeit sehr sicher, schnell und überlegen auszuführen“. Warum denken wir eigentlich, wenn wir über Routine am Theater sprechen, so schnell an Gewohnheiten ohne Engagement? Ist dem wirklich so? Warum sollten Apparate oder Kollektive im Theater nicht das sich erarbeiten können oder erarbeitet haben, was dem Einzelnen – siehe Peter Kurth – über Internalisierung und Habitualisierung gelingt, nämlich vergleichbaren Situationen oder Problemstellungen handlungssicher begegnen?

Wer aus persönlichen Routinen ausbrechen will oder aufgrund veränderter Grundbedingungen ausbrechen muss, weiß aus eigener und bisweilen schmerzhaft erlebter Erfahrung, dass diese Routinen nicht nur den Alltag beherrschen, sondern auch einen Teil der Persönlichkeit ausmachen. Will man Routinen verändern, verändert man Persönlichkeiten – und trifft im Inneren auf Widerstand. Möglicherweise hilft es ja allen Beteiligten, wenn man die Apparate oder Kollektive erst einmal als Persönlichkeiten versteht und die Routinen, die sich das Orchester, die Bühnenmannschaft, der Vertrieb, der Opernchor, die Verwaltung, die Ensembles oder die Werkstätten erarbeitet haben, wenn man diese Routinen als Geschicklichkeit, Können und gelebtes Wissen wertschätzt. Als die durch Erfahrung erworbene Fähigkeit, das, was zu tun ist, „sehr sicher, schnell und überlegen“ zu tun. Man kann es auch anders beschreiben: als tägliches Staunen darüber, was da jeden Tag alles klappt und was da alles jeden Abend im Theater zusammenkommt an Verlässlichkeit und Gelassenheit, Übersicht und Sicherheit, Schnelligkeit und ja: Routine. Systemtheoretisch gesprochen: wie unwahrscheinlich dieses Gelingen ist! Und wie wenig dankbar man sich oft zeigt als Leitung eines Hauses. Deswegen an dieser Stelle ausdrücklich ein großes Dankeschön an alle, die das Unwahrscheinliche so wunderbar im Theatergarten und auf dem Goetheplatz hingekriegt haben.

Man muss das Neue, das Andere üben. Man übt es dosiert, in dem man sich mehr und mehr zutraut. So wie wir es diesen Sommer gemacht haben. Und natürlich muss man die Routinen auch in Frage stellen. Man kann beides, das Üben wie das in Frage stellen ganz gut aushalten, aber man profitiert tagtäglich von den Routinen, ohne die es zumindest im Theater das Glück der Kunst nicht gäbe.

Genießen Sie den Sommer auch ohne uns! Möge er ein großer werden. Aber kommen Sie wieder rein, wenn er vorbei ist. Sie sind herzlich willkommen! Am 3. September geht es mit der Premiere von Moby Dick oder der Wal los – dann geht es Schlag auf Schlag weiter. Wir sehen uns! Auf bald!