„An dieser Debatte wird wieder deutlich, dass Kunst immer politisch ist“
Der Anspruch, Kunst und damit das Theater seien unabhängig von der Politik, hat gerade hinsichtlich das Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine eine noch größere Dimension eingenommen: Welche Gefahren in diesem Narrativ der unpolitischen Kunst liegen, und dass es die Autonomie vielmehr gefährdet als bewahrt, darüber spricht Musiktheaterdramaturgin Frederike Krüger mit Yvonne Pörzgen, Professorin für Slavistik an der Ruhr-Universität-Bochum, anlässlich der Premiere von Tschaikowskys Pique Dame.
Frederike Krüger: Als wir das erste Mal miteinander sprachen, sagten Sie, dass es ein politischer Akt sei, Pique Dame zu spielen und Tschaikowsky nicht vom Spielplan zu streichen. Was meinen Sie damit?
Yvonne Pörzgen: Tschaikowsky gilt vielen als Stellvertreter Russlands. Wenn man als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Tschaikowskys Musik komplett aus dem Repertoire nimmt, macht man es sich aber zu einfach. Es lohnt sich, seine Werke und seine Person genauer zu betrachten.
Immer wieder wird darüber diskutiert, welche Rolle die Kunst im politischen Kontext einer Gesellschaft spielt: Welche politische wie soziale Bedeutung hat die Kunst im Allgemeinen und Tschaikowsky im Besonderen in Russland? Und wie hat sich das Verhältnis von Kunst und Politik in Russland seit dem 19. Jahrhundert geändert?
Yvonne Pörzgen: Überspitzt formuliert: Es gibt kaum einen Konzertsaal in Russland, der nicht nach Tschaikowsky benannt ist. Beim Titel Jahreszeiten ist in Russland die erste Assoziation nicht Vivaldi (op. 8), sondern Tschaikowsky (op. 37a, 37b). Gerne wird lamentiert, in der Sowjetunion hätten alle Menschen in der Metro gelesen, heute dagegen starre die Jugend nur auf das Smartphone. Theater- und Konzertkarten seien so billig gewesen, dass die Hochkultur allen zugänglich gewesen sei. Dabei wird vergessen, was auf den sowjetischen Bühnen nicht gezeigt wurde und dass Kreativität lebensgefährlich war. Schriftsteller wie Osip Mandelstam starben im Gulag oder wurden hingerichtet wie Isaak Babel. Eine negative Rezension seiner Oper Die Lady Macbeth von Mzensk („Chaos statt Musik“ hieß es dazu in einer Kritik) brachte den Komponisten Schostakowitsch in Lebensgefahr. Die Kulturlandschaft in Russland unter Putin war vielfältig, aber immer unter strenger Beobachtung. Der Raum für experimentierfreudige Kulturschaffende wurde immer stärker reglementiert (siehe die Prozesse gegen die Macher der Ausstellung Achtung, Religion! (2003) oder der Hausarrest für den Regisseur Kirill Serebrennikow ab 2017). Kein Wunder, dass das progressive Theater Gogol Center in Moskau im Sommer 2022 endgültig geschlossen wurde.
Ist die Kunst ein Mittel des Kampfs?
Yvonne Pörzgen: Kunst wird vereinnahmt und für Propagandazwecke missbraucht. Bestimmte Künstler werden zu Kristallisationspunkten, derzeit vor allem Puschkin und Tschaikowsky. In der ukrainischen Stadt Cherson wurden während der Besetzung durch Russland im Sommer 2022 Plakate der Putinpartei Einiges Russland mit einem Puschkinporträt aufgehängt, ein Puschkinzitat sollte die „russische Geschichte“ der Stadt bekräftigen. Die Debatte um Tschaikowsky in Deutschland, Tschechien, Griechenland und auch im Baltikum wirft Wasser auf die Mühlen der russischen Propaganda-Maschinerie, die „dem Westen“ Cancel-Culture und Russophobie vorwirft. All dies sind Begleiterscheinungen eines Krieges, in dem Russland gezielt zivile ukrainische Infrastruktur wie Kraftwerke, aber auch Theater, Museen und Universitäten zerstört.
Seit Ausbruch des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wird in der Kunstwelt (und darüber hinaus) hitzig debattiert, ob russische Kunst noch spielbar ist, ob russischen Künstler:innen die Bühne entzogen werden sollte. Wie ordnen Sie diese Debatte ein?
Yvonne Pörgzen: An dieser Debatte wird wieder deutlich, dass Kunst immer politisch ist und der Versuch, alles Politische auszublenden, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Kunst wird von Menschen gemacht. Wie diese Menschen sich positionieren, mit wem und für wen sie sich auf die Bühne stellen, ist politisch. Jeder Mensch muss aber als Individuum behandelt werden. Aber warum nicht aus einer Not eine Tugend machen? Warum nicht gezielt geflohene, in Not geratene Künstler:innen aus der Ukraine engagieren, denen der russische Beschuss die Lebensgrundlage entzogen hat?
Wie ist die Sicht Russlands auf die Rezeption russischer Kunst seitens des Westens?
Yvonne Pörzgen: Symptomatisch ist hier für mich die Positionierung der russischen Vertretung bei der UNESCO. In einem im Juni 2022 über Twitter verbreiteten Videoclip wird der Joker aus dem Batman-Universum, wohl als Stellvertreter für „den Westen“ gesehen, zum Richter über die russische Kultur, vertreten von den Schriftstellern Dostojewski, Puschkin, Tolstoi und Gogol. Mit vereinter Kraft besiegen sie den Joker in Richterrobe, der sich zuvor multipliziert hat, neben ihm stehen ein Joker mit Napoleonhut, einer im T-Shirt mit Peace-Zeichen, einer im Kapuzenpulli und einer in der traditionellen ukrainischen bestickten Bluse, der Wyschywanka. Verrückterweise stehen somit der aus der Ukraine stammende Gogol und eine Figur, die gekleidet ist wie viele Figuren aus seinen Werken, einander gegenüber. Logisch ist das nicht, illustriert aber die Prozesse von Vereinnahmung und Ausgrenzung, die gerade ablaufen.
Im vergangenen Jahr gab es viele russische Künstler:innen, denen aus politischen Gründen und wegen ihrer mutmaßlichen Nähe zu Putin keine künstlerische Bühne mehr geboten wurde. Nun kehren ihre Engagements immer mehr zurück. Was hat sich geändert innerhalb der Gesellschaft, dass diese Personen offensichtlich nun anders bewertet werden?
Yvonne Pörzgen: Ich beobachte eine gewisse Müdigkeit in Deutschland, was Russlands Krieg gegen die Ukraine angeht. Man will zum Tagesgeschäft übergehen, so weitermachen wie vor dem 24. Februar 2022. Wir müssen uns aber weiter mit dem Krieg und seinen Folgen auseinandersetzen. Die Inszenierung von Pique Dame in Bremen bietet dafür einen guten Anlass.
Veröffentlicht am 24. Mai 2023