DECAMERONE GLOBALE°
Organisatorin Tatjana Vogel über ein Festival, das ursprünglich anders geplant war ...
Matthieu Svetchine schaut in die Kamera. Im Hintergrund sieht man ein Wohnzimmer, Bücher und Kunst an den Wänden. Er beginnt langsam und eindringlich auf Russisch zu singen. Es ist ein Ausschnitt aus Simon-Pierre Hamelins Roman 101, Rue Condorcet, Clamart, über das prekäre Exilleben der Dichterin Marina Zwetajewa. Mirjam Rast streift durch Bremen. Vor dem rauschenden Fluss interpretiert sie Temye Tesfus Gedicht polkappenrequiem. Annemaaike Bakker stellt den Text Matrice von Nisrine Mbarki im Original auf Niederländisch vor. Und Stanisław Strasburger liest gemeinsam mit Ferdinand Lehmann aus seinem Buch Der Geschichtenhändler oder der Wettkampf der Dichter in Kooperation mit dem Literaturforum im Brecht-Haus.
Decamerone globale° – Literatur in Zeiten der Isolation
Das sind nur vier Beispiele von über zwanzig verschiedenen Aufnahmen, die im Rahmen des Projekts Decamerone globale° – Literatur in Zeiten der Isolation in Zusammenarbeit mit Schauspieler*innen des Theater Bremen entstanden sind. Vier ganz verschiedene Umsetzungen, die alle die Essenz des Projekts verkörpern: Beiträge in vielen Sprachen, die unseren plötzlich so begrenzten Lebensraum ein wenig größer machen, die es uns erlauben zu Reisen und uns zu inspirieren – trotz der bedrängenden Lage.
Sie sind aber auch ein Beispiel dafür, wie wichtig und produktiv Zusammenarbeit ist und welche kraftvollen Ergebnisse daraus entstehen können.
Die Idee von Decamerone globale° entstand aus der plötzlichen Notlage vieler Autor*innen, die wegen der Pandemie massive Einkommensverluste zu verzeichnen hatten. Deshalb sollten die Texte auch eine Möglichkeit bieten, diese Autor*innen finanziell zu unterstützen. Hundert sollten gesammelt werden.
Angelehnt ist dieser Ansporn an Il Decameron von Giovanni Boccaccio, eine Novellensammlung von 1352.
Sein Buch erzählt von einer Gruppe junger Menschen, die, um sich dem Wüten der Pest in den Städten zu entziehen, gemeinsam aufs Land gehen. Um sich die Zeit auf eine möglichst inspirierende Weise zu vertreiben, beginnen sie sich Geschichten zu erzählen. Durch diese finden sie Trost und schöpfen Kraft aus ihrem Zusammenhalt. Im Geiste dieses Textes soll Decamerone globale° Raum für Gemeinschaft bieten, auch wenn die wenigsten die Möglichkeit haben, sich mit ihrem Umfeld in ein Landhaus zurückzuziehen, bis der Sturm vorüber ist. Gleichzeitig soll es weit mehr sein als die Möglichkeit, die Augen vor der aktuellen Lage zu verschließen. Vielmehr wünschen wir uns, dass das Projekt dazu anregt, mehr zu sehen, durch die literarischen Texte in die Welt zu schauen, sich die Realitäten anderer bewusst zu machen und ein solidarisches Verhältnis zur gesellschaftlichen Situation zu entwickeln
Inzwischen hat sich Decamerone globale° verselbstständigt.
Die Beiträge können auch auf Spotify angehört werden und wir sind in Kontakt mit Autor*innen, die hoffentlich bei dem regulären globale°-Festival für grenzüberschreitende Literatur zwischen dem 27. Oktober und 2. November in Bremen live zu erleben sein werden (das diesjährige Festival trägt das Motto Libri prohibiti – Verbotene Bücher). Außerdem sind bereits Anschlussprojekte entstanden, die nun ebenfalls weiterentwickelt werden. Aus der ursprünglichen eiligen Reaktion wurde eine Inspiration dafür, neue Wege zu gehen.
Deswegen möchten wir uns bei all den Schauspieler*innen des Theater Bremen bedanken, die uns ihre Stimmen geliehen haben, um die Texte und die Botschaft unseres Projekts zu transportieren: Annemaaike Bakker, Emil Borgeest, Guido Gallmann, Lisa Guth, Nadine Geyersbach, Ferdinand Lehmann, Deniz Orta, Mirjam Rast, Matthieu Svetchine und Alexander Swoboda sowie bei Eva Gosciejewicz und Martin Mutschler, die am Theater Bremen in den vergangenen Jahren vielfältig tätig waren.