„Denn es gibt ja auch ein Leben, was weitergelebt werden will und muss.“

Über den Umgang mit traumatischen Erfahrungen, über Resilienz und die Bedeutung des Erzählens: Dramaturgieassistent Johannes Schürmann spricht mit der Familientherapeutin und Traumapädagogin Julia Bialek.

Welche Bedeutung haben das Schweigen über und das Erzählen von traumatischen Erlebnissen in Ihrer Arbeit?

Julia Bialek: Wir nehmen viele Dinge gleichzeitig wahr. Wir hören, wir sehen, wir riechen etwas und daraus macht unser Gehirn ein Ganzes, an das wir uns hinterher erinnern können: ein Ereignis, das einen Bezug zu unserem Leben hat, das in einer bestimmten Kausalität steht, das einen Anfang und ein Ende hat. Und dieses Eins-Machen funktioniert unter Traumabedingungen nicht. Das ermöglicht es uns, Dinge auszuhalten, die wir sonst nicht aushalten könnten. Insofern ist es für Betroffene sehr schwierig, traumatische Erfahrungen zu erzählen. Es ist auch nicht immer sinnvoll, weil Erinnern auch eine Aktualisierung des Geschehens bedeutet. In David Safiers Roman Solange wir leben reisen Waltraud und Joschi nach Israel. Waltraud geht es dabei sehr schlecht. An einem Punkt bricht der Wall und sie fängt an zu erzählen. Ihre Erinnerungen setzen sich zum Teil wieder zusammen und werden erzählbar. Doch dieser Prozess ist für sie keineswegs erleichternd. Vielmehr gerät sie unkontrolliert hinein und fühlt sich dabei nicht wohl. Und das kann eben die große Gefahr von Erzählen sein. In meiner Arbeit ist es wichtig, einen sicheren Rahmen zu schaffen, um die einzelnen Puzzlestücke vorsichtig zusammenzufügen und erzählbar zu machen. Denn Trauma bedeutet auch, große Not zu erleben und es ist keiner da, der einem hilft. Man ist vollkommen einsam und verlassen. Dieses Erleben ist der Kern von Traumatisierung. Deshalb braucht es erstmal wieder das Erleben von Vertrauen und Verbundenheit, bevor man in einen wirklichen Erzählprozess geht. Insofern ist Schweigen auf die Dauer keine Lösung, aber es ist trotzdem ein guter Schutzmechanismus, den wir aufbauen, um funktionieren zu können. Denn es gibt ja auch ein Leben, was weitergelebt werden will und muss. Und das können wir nicht weiterleben, wenn diese Inhalte uns permanent destabilisieren.

Sie haben die Bedeutung von Vertrauen und Verbundenheit für den Umgang mit traumatischen Erfahrungen angesprochen. Solange wir leben erzählt die Liebesgeschichte zweier Menschen, die vor ihrer Begegnung jeweils furchtbare Erfahrungen gemacht haben. Welche Rolle spielen solche Erlebnisse im gemeinsamen Beziehungsaufbau und in der Beziehungsgestaltung mit anderen Menschen?

Verbundenheit zu erleben ist eine Grundvoraussetzung für die Verarbeitung von Traumatisierung. Es gibt ein sehr berühmtes Zitat von dem Gehirnforscher Gerald Hüther, der sagt: „Das Wiedererleben von Verlässlichkeit in Beziehungen ist wohl einer der wichtigsten Aspekte für die Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen“. Waltraut und Joschi scheinen insofern eine gute Ausgangsbasis zu haben, weil sie jeweils in ihrer frühen Kindheit ein liebevolles Umfeld hatten. Joschi mit einer sehr engagierten und für ihn kämpferischen Mutter und einem liebevollen Vater. Aber auch die Beziehung von Waltraud zur Mutter hat etwas sehr Wohlwollendes und Liebevolles. Darauf können die beiden aufbauen. Und das ist mehr als das, was ich häufig in meiner Arbeit erlebe: wenn Kinder von Anfang an Vernachlässigung, Gewalt und andere große Belastungen erfahren. Was Waltraud im Kern trifft, das ist sicherlich der Tod ihres Mannes, der für sie absolut unerwartet kommt und dem sie ohnmächtig ausgeliefert ist. Sie reagiert mit der Strategie, ihre Emotionen abzuschneiden und zu funktionieren – und gerade als Mutter für ihre Tochter sehr gut zu funktionieren. Das ist ein häufiges Muster: Rückzug und Fokussierung auf die Eigenständigkeit. Joschi beschäftigt andere Themen – möglicherweise Schuldgefühle darüber, dass er seine Eltern nicht vor den Nationalsozialisten schützen konnte. Als die beiden sich kennenlernen, ist Joschi vollkommen bereit dazu, eine Bindung einzugehen. Aber Waltraud braucht eine ganze Weile, um sich auf eine gemeinsame Beziehung einzulassen.

Joschi ist dann derjenige, der für Waltraut sehr vieles in seinem Leben ändert, der einen Entzug macht und bereit ist, für sie ein anderer zu werden.

Und so gewinnt sie langsam Vertrauen, bis sich zwischen ihnen eine außergewöhnlich liebevolle Beziehung entwickelt, in der sie die Sicherheit erleben, die sie beide brauchen um zumindest einen Teil von dem, was sie an Ballast mitschleppen, verarbeiten zu können. Sicherlich nicht alles, aber einen Teil.

Joschi und Waltraud trennen zwanzig Lebensjahre. Die beiden werden miteinander alt und am Ende seines Lebens wird Joschi pflegebedürftig. Welche Bedeutung haben die Erfahrungen, über die wir gesprochen haben, im gemeinsamen Altern und miteinander Altwerden?

Es gibt das Phänomen der verzögerten posttraumatischen Belastungsstörung. Es kann also tatsächlich sein, dass eine Kriegstraumatisierung dreißig, vierzig Jahre im Hintergrund besteht, ohne richtig auszubrechen, und dann im Alter, wenn der Mensch das nicht mehr halten kann, im Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung da ist. Wir gestalten unser Leben oft so, dass wir irgendwie mit diesen Erfahrungen weiterleben und diese nicht aufarbeiten. Häufig indem wir sehr viel arbeiten und uns ablenken, um nicht mit dem Erlebten konfrontiert zu werden. Das ändert sich mit dem Alter, weil unsere Kräfte und unsere Fähigkeiten, diese Barrieren aufrecht zu erhalten, meistens schwächer werden und nachlassen. Dann holen uns diese Erfahrungen ein, bis wir an unsere Grenzen geraten und nicht mehr weiterkönnen – so wie Waltraud und Joschi in Solange wir leben.

Welche Rolle haben Kinder und hat die Kindergeneration in Bezug auf Traumatisierungen und den Umgang damit?

Traumadynamiken in Beziehungen sind häufig sehr destruktiv. Kinder sind potenziell in der Gefahr, dass die Traumatisierungen der Eltern an sie weitergegeben werden. Das Besondere an der Beziehung zwischen Waltraud und Joschi ist, dass sie so liebevoll und fürsorglich miteinander sind, dass es nie zu wirklich destruktiven – wie man heute sagt – zu toxischen Dynamiken zwischen ihnen kommt. Neben Traumata gibt es auch Resilienz – die Fähigkeit, schwierige Situationen zu bewältigen, stark zu bleiben und sich wieder zu erholen. Das zeigen beide an vielen Stellen des Romans. David Safier schreibt über seine eigenen Eltern, und ich finde, er hat den Aspekt der Resilienz dabei sehr treffend beschrieben: dass da ganz viel Gesundes in deren Beziehung war und schwierige Situationen bewältigt wurden. Denn mit zwei Pleiten und immer neuen existenziellen Situationen mussten sie das ja immer wieder in ihrem Leben: sich als Familie gegenseitig tragen und unterstützen. Darin liegt ein großer Schatz, eine ganz große Ressource für diese Familie.

Veröffentlicht am 27. März 2025.