Lesung: Der Tag, an dem ich sterben sollte

Said Etris Hashemi überlebte den rechtsextremen Terroranschlag am 19. Februar 2020 in Hanau mit mehreren Schusswunden. Im Theater Bremen liest er nun aus seinem Buch Der Tag, an dem ich sterben sollte. Es ist bei Hoffmann und Campe erschienen, der Verlag erlaubt freundlicherweise den Abdruck eines Auszugs.

12. Dezember 2022

„Mir wurde soeben der Wunsch unterbreitet, die Raumtemperatur hier drinnen ein bisschen wärmer zu justieren. Ich will jetzt meine eigenen Befindlichkeiten nicht zum Maßstab erklären, aber ich friere hier jetzt nicht. Ich glaube, beim Kollegen K. da hinten ist es auch aushaltbar. Geht auch, ne?“ Der Abgeordnete reckt seinen Daumen in die Luft. „Aber es ist ja durchaus möglich, dass es hier oben etwas wärmer ist als da unten in der ersten Reihe. Ich prüfe das mit dem Hausmeister, eventuell können wir das Thermostat ein wenig hochskalieren. Ansonsten ein Tipp von mir: Wem es zu kalt ist, der oder die kann ja ein paar Reihen nach hinten rutschen.“

Vereinzeltes Gelächter ertönt hier und da aus verschiedenen Ecken des Hessischen Landtags. Ich gucke auf mein Handy. Heute ist die 23. Sitzung und ich habe so ein Gefühl, dass die Kollegen in den ersten Reihen nicht die Einzigen sind, die es heute noch frösteln wird.

„Spaß beiseite! Jetzt machen wir erst einmal weiter mit der Vernehmung der Zeugin Frau K.“, fährt der Vorsitzende gut gelaunt fort. „Mich interessiert da als Erstes einmal das, was Sie vorhin angesprochen haben, Frau K. Diese Gefährderansprache. Ich nenne das jetzt einmal so. Die wurde ja von Ihnen angeordnet. Sie haben berichtet, Sie hätten den Konfliktteams, die für die Kommunikation mit den Opferfamilien zuständig waren, gesagt, sie sollten die Angehörigen ‚sensibel darauf vorbereiten‘, dass der Vater des Täters aus der psychiatrischen Obhut entlassen und in sein Haus zurückkehren wird. So habe ich es mitgeschrieben. War das jetzt eine konkrete Gefährderansprache oder können Sie dazu überhaupt erst einmal aus Ihrer fachlichen Praxis erläutern, was das bedeutet? Was ist der Unterschied zwischen Gefährderansprachen und Gefährdetenansprachen? Wann erlässt man so etwas und wie findet das normalerweise statt?“

Die Kriminaldirektorin lässt sich einige Sekunden Zeit, bevor sie antwortet. Ihre Stimme klingt ruhig, betont sachlich. Man könnte sagen: distanziert. „Das sind beides technische Begriffe aus dem Gefährdungslagenmanagement. Wir haben es also mit Maßnahmen zu tun, die getroffen werden müssen, wenn wir es zuvor mit einer Gefahrenlage zu tun hatten. Man kennt das zum Beispiel aus dem Fußball, wenn Hooligangruppen aufeinandertreffen. Auch in Situationen mit häuslicher Gewalt finden solche Ansprachen statt. In dem Moment damals – ich möchte noch mal betonen, dass ich in der Befassung nur sehr peripher beteiligt war – habe ich zwar sehr wohl mitbekommen … also weil das Ganze ja auch …“

Frau K. kommt ins Stocken. Sie hält kurz inne, schüttelt sich das hellbraune Haar aus dem Gesicht und setzt noch mal neu an. „Die Kontaktteams … also ich hatte schon das Gefühl, dass die sich sehr, sehr viel Mühe gegeben haben mit dem Ganzen. Mit der Betreuung. Wir hatten es hier mit einer sehr sensiblen Situation zu tun, das war allen Beamten und mir klar. Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht mehr genau sagen, ob ich exakt diesen Begriff – Gefährderansprache – verwendet habe. Ich habe dem Stabsleiter Herrn S., glaube ich, eher etwas in die Richtung gesagt: ‚Bitte, wir müssen gucken, dass es hier zu keiner Eskalation kommt. Die Hinterbliebenen müssen wissen, dass der Vater des Täters, also der Herr R., wieder dort im Viertel auftauchen kann. Der wohnte ja in direkter Nähe. Bitte schick deine Teams dorthin‘, habe ich dem S. gesagt, ‚damit die die Opferangehörigen benachrichtigen und es zu keinen ungebetenen Überraschungen kommt.‘“

Ein Freund aus der Initiative 19. Februar Hanau hat so einen Spruch, an den ich denken muss, während ich dem Gestotter der K. lausche: „Gut gemeint und gut gemacht sind manchmal Gegensätze.“ Ich glaube, der hat selten so gut gepasst wie zu Frau K.s umständlichen Ausführungen, was damals wenige Wochen nach den Morden stattgefunden hat. Man kann bunte Seidenschleifchen und Geschenkpapier drum herumwickeln, wie man will: Ein Pflasterstein bleibt ein Pflasterstein und tut weh, wenn du ihn jemandem an den Kopf wirfst.

„Ohne viel Federlesen zu machen, Frau K., würde ich Sie trotzdem bitten, sich noch einmal versuchen zu erinnern, was Sie damals genau angeordnet haben. Die Absicht, möglichst ein Aufeinandertreffen der beiden Parteien zu verhindern, ist natürlich nachvollziehbar. Aber so eine Botschaft kann man ja auf zwei verschiedene Arten rüberbringen. Das macht ja einen Unterschied, ob ich sage: ‚Ich weiß, das ist jetzt schmerzhaft für Sie, aber der Vater ist wieder draußen. Nehmt euch bitte in Acht, dass ihr dem nicht über den Weg lauft, weil von dem eine Bedrohung ausgehen könnte. Ihr und wir wissen ja, wie der tickt.‘ Oder ob man sagt: ‚Passt mal auf, Leute! Der ist jetzt wieder draußen und wir behalten euch im Auge! Nicht, dass einer hier auf die Idee kommt, Vendetta zu üben.‘“

Frau K. blinzelt zum Podium des Vorsitzenden hoch. „So gerne ich es möchte, aber ich kann meinen exakten Wortlaut nicht wiedergeben“, durchbricht ihre Stimme schließlich die Stille. „Das ist jetzt ja auch schon eine Weile her. Ich weiß nur, dass ich inhaltlich dem S. gesagt habe: ‚Bitte sag den Familien, dass der Herr R. senior wieder in der Nachbarschaft auftaucht.‘ Ich erinnere mich dann noch, wie anschließend am gleichen Tag noch die Frau B. bei uns an der Teeküche vorbeikam und ganz aufgelöst war. Sehr emotional, aufgewühlt war die. Ich fragte sie, was los sei, und die meinte, sie sei bei den Angehörigen gewesen und die hätten das alles ganz falsch aufgefasst. Dass die dachten, sie hätte denen eine Gefährderansprache erteilt, dabei sei es gar nicht so gemeint gewesen. Die Frau B. war wirklich sehr, sehr aufgewühlt. Der tat das total leid!“

Ein bitteres Lächeln zieht sich über mein Gesicht. Die arme Frau B.! Hatte einen schlechten Tag, weil die Angehörigen sie einfach missverstanden haben! Ich erinnere mich noch genau an die Gefährderansprache, Gefährdetenansprache, das sensible Annäherungsgespräch oder wie die Beamten es auch umschreiben, um das Ganze möglichst nett aussehen zu lassen. Es begann alles mit einem ersten Anruf, einen Tag, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Meine Schwester drückte mir ihr Handy in die Hand. Mein eigenes war nach wie vor unter Verschluss. Die Opferbeauftragte Frau B. war dran und stellte mir lauter komische Fragen über den scheppernden Lautsprecher des Telefons.

„Herr Hashemi, was haben Sie die letzten Tage gemacht?“

„Na, ich war im Krankenhaus. Wo denn sonst?“

„Sie waren nur im Krankenhaus?“

„Ja …?“

„Sie haben das Krankenhaus nicht verlassen zwischendrin?“

Langsam begann sich eine gewisse Unruhe in mir auszubreiten. Was waren das alles für seltsame Fragen? Ich antwortete mürrisch: „Nein. Warum fragen Sie so?“

In lehrerhaftem Ton erklärte B. dann: „Laut meinen Informationen sind Sie vor Kurzem in eine Polizeikontrolle geraten.“

Die Unruhe in meiner Brust verwandelte sich langsam in Zorn. Was passierte hier? „Hä?? Was für eine Polizeikontrolle? Ich war im Krankenhaus! Wie soll ich da in eine Polizeikontrolle kommen?“ Ich weiß nicht, ob es an meinem Tonfall lag oder daran, dass es hier nichts mehr an Informationen zu holen gab, aber damit war das Gespräch erst mal beendet und ich sehr verwirrt.

Ein paar Tage später rief Frau B. wieder an. Wieder streckte mir Saida schulterzuckend ihr Handy entgegen. Nach dem Begrüßungsgeplänkel ging es dann los.

„Wir müssen Ihnen mitteilen, dass der Vater wieder in sein Haus zurückkehren darf. Ich möchte Sie also hiermit noch mal belehren, dass Sie keine Selbstjustiz ausüben dürfen und …“

Das war dann der Punkt, an dem ich ausgerastet bin. „Ey, wollt ihr mich gerade komplett verarschen?“

Ich schrie nicht. Ich schreie eigentlich nie. Aber ich glaube, Frau B. wurde trotzdem ziemlich schnell klar, dass sie eine Linie übertreten hatte.

„Ich soll keine Selbstjustiz üben? Er soll uns einfach in Ruhe lassen!“

Die B. hatte gar nicht mehr die Chance, sich zu erklären. Ich riss mir das Handy vom Ohr, drückte es Saida in die Hand und stürmte aus dem Raum. Wenn ich das Gefühl beschreiben müsste, das mir die Beamten nach dem Anschlag gaben, dann würde ich sagen: Ich habe mich observiert gefühlt. Nicht informiert, nicht umsorgt, eher aus der Distanz beobachtet aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen. Frau B. war nicht nur die Person, die mir die Gefährderansprache unterbreitete, sie war es auch, die Nesars Klamotten der Familie Păun vorbeigebracht hatte statt uns. Hoppla, Verwechslung, kann ja mal passieren!

Ich hoffe, ihr könnt verstehen, warum sich mein Mitleid, dass Frau B. einen schlechten Nachmittag in der Teeküche hatte, in Grenzen hält.

Ein interner Bericht einer Arbeitsgruppe der Polizei, der in den letzten Sitzungen des Untersuchungsausschusses ans Tageslicht kommen sollte, bestätigte später all diese Skandale der Polizeiarbeit, die Frau K. und viele andere Zeugen und Zeuginnen in den Sitzungen verleugnet haben. Fünfzig Seiten „einsatztaktische Nachbereitung“, in der die Beamten in Südosthessen mehr oder weniger alles bestätigten, was wir die ganze Zeit kritisiert hatten. Dass in der Tatnacht nicht genug Polizeibeamte zur Verfügung standen. Dass viel früher eine sogenannte Großgefahrenlage hätte ausgerufen werden müssen. Dass die Kommunikation innerhalb der zuständigen Gruppen desaströs verlaufen und es so immer wieder zu Informationsverlusten gekommen war. Was wiederum dazu geführt hatte, dass wir und teilweise sogar die Beamten viele Informationen aus der Presse und von Twitter bekamen und nicht etwa von den Einsatzleitern. Dass der Notruf nicht funktioniert hatte und die Tatortsicherung mangelhaft gewesen war.

Der Bericht bestätigte auch all die Skandale, die im Umgang mit uns Hinterbliebenen vonseiten der Polizei stattgefunden hatten, wie zum Beispiel die Gefährderansprache, um die es hier heute geht. In diesen fünfzig Seiten Nachbereitung stellte die Polizei selbst fest, dass sich Beamte und Beamtinnen damals vor allem um den Vater des Attentäters gekümmert haben, während wir Angehörigen der Opfer als mögliche Gefahr eingestuft wurden. Dieser interne Bericht bestätigte alles – nur leider versäumte man es mal wieder, uns davon zu erzählen. Ich erinnere mich nicht mehr, in welcher Sitzung es geschah, aber irgendwann gegen Ende wurde er plötzlich hervorgeholt und behandelt. Das war das erste Mal, dass wir von der Existenz dieses Berichts erfuhren, und natürlich wurden wir hellhörig. Das war genau das, was wir brauchten! Seit Jahren forderten wir eine solche Untersuchung – dabei gab es sie längst! Und sie bestätigte auch noch all unsere Vorwürfe, aber niemand unterrichtete uns davon! Wie hatte ein so wichtiges Dokument einfach untergehen und erst gegen Ende des Untersuchungsausschusses eingereicht werden können? Praktischerweise, als alle betroffenen Zeugen aus Polizei und Politik schon ausgesagt und nicht mehr damit konfrontiert werden konnten?

Uns war klar: Dieser Bericht muss an die Öffentlichkeit gelangen.

 

Der Autor:
Said Etris Hashemi, geboren am 01.09.1996, ist Sohn afghanischer Geflüchteter. Said Etris ist von dem rechtsextremen Terroranschlag am 19.02.2020 in Hanau direkt betroffen. Er verlor bei dem Anschlag seinen jüngeren Bruder Said Nesar und viele seiner Kindheitsfreunde. Er selbst überlebte den rassistisch motivierten Anschlag mit mehreren Schusswunden, u.a. am Hals, nur schwerverletzt. Seitdem ist er zum Botschafter für mehr Gerechtigkeit in diesem Land geworden, nutzt seine Stimme aktiv und setzt sich gegen Rassismus und Diskriminierung ein. 

Im Theater Bremen liest er am 13. November aus seinem Buch Der Tag, an dem ich sterben sollte. Melikşah Şenyürek moderiert. Beginn der Lesung ist um 19 Uhr im Foyer des Theater am Goetheplatz.

 

 

Veröffentlicht am 21. Oktober 2024