Der Trauer Raum geben

Wenn ein Kind stirbt, stellt sich oft eine große Sprachlosigkeit ein. Trauerbegleiterin Karin Grabenhorst ist Mitglied beim Bundesverband Verwaiste Eltern und trauende Geschwister in Deutschland e. V. und leitet aktuell die Beratungsstelle für Familientrauer des Deutschen Roten Kreuzes in Bremen. Ein Gespräch mit der Dramaturgin Sonja Szillinsky.

Sonja Szillinsky: In dieser Spielzeit arbeite ich an zwei Inszenierungen mit, in denen es – neben anderen Themen – um den Tod eines Kindes geht. In Ewald Palmetshofer Vor Sonnenaufgang stirbt ein Kind unter der Geburt, in Dea Lohers Das letzte Feuer kommt ein Achtjähriger bei einem Unfall ums Leben. Über den Tod eines Kindes zu sprechen, insbesondere mit den Angehörigen, fällt vielen Menschen sehr schwer.

Karin Grabenhorst: Ja, es ist schließlich das Schlimmste, was man sich vorstellen kann – dass mein Kind stirbt – oder ein Kind in meinem Umfeld. Die Themen Tod und Sterben sind in Deutschland nach wie vor recht tabuisiert, das ist vor allem im Umgang mit dem Tod von Kindern spürbar. Wenn ein Kind vor seinen Eltern stirbt, nehmen wir das immer als falsch wahr. Mit diesem Gedanken sind alle beschäftigt, unabhängig davon, ob das Kind im Mutterleib stirbt, ob es einen plötzlichen Kindstod erleidet oder durch einen Unfall ums Leben kommt, durch Suizid, Drogen oder ein Gewaltverbrechen. Auch, wenn es an einer Krankheit stirbt, so dass die Limitierung des Lebens vielleicht bekannt ist – es ist in unserer Wahrnehmung immer die falsche biologische Reihenfolge. Und meistens ist es am Anfang so, vor allem wenn es ein plötzlicher Tod ist, dass erst einmal ein Schockzustand eintritt. Da gibt es noch gar keine Trauer, da gibt es nur Fassungslosigkeit und die Frage: Wie kann ich überhaupt weiterleben? Da geht es dann zunächst darum, von einem Moment zum nächsten zu kommen und irgendwann wieder handlungsfähig zu werden.

Welche Empfehlung haben Sie für Menschen, in deren Umfeld ein Kind verstirbt? Was kann ich tun, um die trauernde Familie, die trauernden Eltern zu unterstützen?

Die Unsicherheit im Umgang mit dem Thema führt manchmal dazu, dass ein Gespräch mit den verwaisten Eltern eher vermieden wird, dass beispielsweise die Straßenseite gewechselt wird. Eine Möglichkeit könnte sein, die eigene Sprachlosigkeit zu benennen und es auszuhalten, dass es gerade schwer ist. Auch für das Umfeld ist es schwer. Aber es braucht Menschen, die der Trauer Raum geben und sie mitaushalten. Es gibt dieses Zitat aus Lindgrens Ronja Räubertochter: „Lange saßen sie da und hatten es schwer. Aber sie hatten es gemeinsam schwer und das war ein Trost. Leicht war es trotzdem nicht.“ Das beschreibt sehr schön, dass es manchmal wichtig ist, einfach da zu sein, sich anzubieten und nicht zu erwarten, dass sich die Trauernden melden, sondern selbst achtsam und sensibel dranzubleiben. Konkret kann es manchmal helfen, zum Beispiel eine Suppe vorbeizubringen oder anzubieten, etwas einzukaufen oder sich um die Geschwisterkinder zu kümmern. Auch am Arbeitsplatz ist es wichtig, dass sich Kolleginnen und Kollegen verständigen, wie ein Raum geschaffen werden kann, um mit der Trauer umzugehen. Dafür gibt es auch Beratungen. Und es gibt natürlich die Möglichkeit von Selbsthilfegruppen für trauernde Eltern und Geschwister, auch wenn meine Erfahrung ist, dass am Anfang eine Einzelbegleitung manchmal sinnvoller ist.

In Das letzte Feuer gehen die verwaisten Eltern sehr unterschiedlich mit ihrer Trauer um. Das führt zu Konflikten und Distanz zwischen ihnen. Welche Erfahrungen haben Sie damit, dass innerhalb einer Familie unterschiedliche Trauerbedürfnisse bestehen?

Um zu verstehen, was in einem vorgeht, ist für mich das duale Prozessmodell nach Stroebe und Schut sehr hilfreich: Es beschreibt, dass sich Trauernde zwischen zwei Polen bewegen, denen sie sich nicht gleichzeitig widmen können. Der eine, der „verlustorientierte Pol“, beschreibt die Trauer um den verstorbenen Menschen, beim anderen, dem „wiederherstellungsorientierten Pol“ steht die Bewältigung des Alltags im Zentrum. Beides ist immer da – in einer Person, aber auch als Dynamik innerhalb einer Familie oder bei Paaren, die einen Verlust erlebt haben. Der eine Partner konzentriert sich vielleicht eher darauf, die Familie abzusichern, während der andere so sehr mit der Trauer beschäftigt ist, dass er das in dem Moment nicht kann. Das können immer wieder Pendelbewegungen sein und es kann zu Differenzen führen – oder Differenzen verstärken. Es kommt auch vor, dass Paare sich dann trennen.

Wenn ein Mensch stirbt, bleiben Gegenstände von ihm zurück; in der Inszenierung Das letzte Feuer sind es ein Ball und ein Paar Kinderstiefel. Welche Rolle können in ihrer Erfahrung Gegenstände in der Trauerarbeit spielen?

Ob es Gegenstände sind oder das Zimmer oder Kleidung – das ist ja immer etwas, das bleibt. Für manche ist es sehr hilfreich, dass es das gibt: Es gibt Menschen, die bauen sich mit den Gegenständen etwas auf, das sie an das Kind erinnert. Ich habe erlebt, dass Familien das Kinderzimmer sehr lange behalten haben und dort hineingegangen sind, um zu trauern, ohne an dem Raum etwas zu verändern, während andere sehr schnell ausziehen mussten, weil sie an diesem Ort nicht bleiben konnten. Das ist so unterschiedlich wie Menschen eben unterschiedlich sind. Ich denke, alles was an Gefühlen und an Widerständen da ist, ist auch richtig. Trauer ist aus meiner Sicht eine große Mischung unterschiedlicher Gefühle: da ist Wut, Sehnsucht, Liebe und vielleicht auch Dankbarkeit. Und es ist ein Prozess, in dem sich immer wieder Dinge verändern.

Sie begleiten seit zwanzig Jahren Familien in ihrer Trauer. Wie wichtig ist es, dass sich Menschen verbinden können und dass es dafür Angebote gibt?

Ich glaube, dass es ungeheuer wichtig ist, dass es diese Angebote gibt – und zwar zu jedem Zeitpunkt genau das Angebot, das die Person in diesem Moment braucht. Manchmal ist es so, dass man am Anfang denkt, dass man allein damit klarkommt und dass man sich vom Umfeld gut aufgehoben fühlt. Das kann sich jederzeit verändern. Auch die Bedürfnisse können sich immer wieder verändern und vielleicht habe ich erst Jahre später das Bedürfnis, mich mit dem Verlust – vielleicht noch einmal auf eine andere Art – zu beschäftigen.

Sie arbeiten auch als Kunsttherapeutin und initiieren immer wieder unterschiedliche Projekte. In welchen Situationen hilft Ihnen dieser Ansatz?

In der Einzelbegleitung nutze ich gern kreative Impulse, wenn das gewünscht ist. Denn oft kommen Trauernde auf der verbalen Ebene nicht weiter und da können kleine Gegenstände, die sie beispielsweise aus Ton anfertigen, helfen, den Verlust anders greifbar zu machen, ihn auf andere Weise ins Leben zu integrieren und darüber dann ins Gespräch zu kommen.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich viel bewegt in der Trauerarbeit. Welche Veränderungen waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten?

1968 entstanden in England die Compassionate Friends, heute die Weltorganisation der verwaisten Eltern und Geschwister: Ein junger Reverend hat in einem Krankenhaus zwei Familien zusammengebracht, deren Kinder dort innerhalb weniger Tage verstorben waren. Sein Gedanke war, dass sich niemand so gut unterstützen kann, wie persönlich Betroffene einander unterstützen können. Daraus sind die Compassionate Friends – die mitfühlenden Freunde – geworden. Neben der professionellen Trauerbegleitung ist das Selbsthilfenetzwerk – auch in und um Bremen – sehr gewachsen. Erfahrungen zu teilen mit Menschen, die etwas ähnliches erleben oder erlebt haben, ist für viele sehr hilfreich. Meines Erachtens hat sich in Deutschland auch durch die Hospizbewegung in den letzten Jahrzehnten etwas bewegt. In Bremen beobachte ich zudem eine Veränderung, seitdem die Messe Leben und Tod hier stattfindet, auf der die verschiedenen Aspekte von Sterben und Abschiednehmen thematisiert werden. Ich glaube, dass sich der Umgang mit diesen Themen weiterentwickeln kann und zugleich, dass das Zeit braucht. Vielleicht mehrere Generationen. Denn unser Umgang mit dem Tod wird bereits in unserer Kindheit geprägt und da sind wir jetzt – hoffentlich – in Deutschland ein bisschen weiter als die Kriegs- und Nachkriegsgeneration.

Welche Angebote für verwaiste Eltern und trauernde Familien gibt es in Bremen?

Neben der Beratungsstelle des DRK, wo ich tätig bin, gibt es zum Beispiel den Verein Trauerland, der sich auf Trauerarbeit mit Kindern und Jugendlichen spezialisiert hat. Es gibt Angebote vom Kinderhospiz Löwenherz und ein gutes Netzwerk von Sternenkinder-Eltern. Auch einige Bestattungsunternehmen bieten Begleitung an. In Bremen-Blumenthal gibt es auch seit vielen Jahren den konfessionsübergreifenden Weltgedenktag für die verstorbenen Kinder, der immer am zweiten Sonntag im Dezember stattfindet. Auch hier können verwaiste Eltern und Geschwister in Kontakt kommen. Für mich ist der Schlüssel dafür, dass wir einander in solchen Situationen unterstützen können, dass das Umfeld aufgeklärt ist. Das bedeutet, dass wir uns dem Thema öffnen und ihm Raum geben. Mir ist es ein Anliegen, dass es in den kommenden Generationen ein Selbstverständnis gibt, über Trauer zu sprechen.

 

Kontaktadressen:

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Beratungsstelle für Familientrauer des Deutschen Roten Kreuzes in Bremen: www.drk-bremen.de/trauerbegleitung-und-abschiedskultur

Trauerland – Zentrum für trauernde Kinder und Jugendliche e.V.: www.trauerland.org

Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e.V.: www.veid.de

Sterneneltern Achim (auch in Bremen aktiv): www.sternenelternachim.de

Leben ohne dich e.V. Selbsthilfe für Familien mit verstorbenen Kindern: www.leben-ohne-dich.de

Selbsthilfegruppe Bremen: www.selbsthilfegruppen.leben-ohne-dich.de/selbsthilfegruppe-bremen/

 

 

Veröffentlicht am 14. Februar 2024