Die Februar-Kolumne – Es gibt immer eine Lösung
Michael Börgerding über Oskar Negt und den Gedanken, das Theater als mögliche Organisation von öffentlicher Erfahrung zu denken
Am 2. Februar ist der große Philosoph und Soziologe Oskar Negt im Alter von 89 Jahren gestorben. Oskar Negt war von 1970 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Hannover. Er hat nicht nur dort sehr, sehr viele Studentinnen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen beeindruckt und auch geprägt. So auch mich, den fast noch jungen Dramaturgen in den Neunzigern in Hannover. Negt war ein fleißiger Theatergänger und jemand, den man um Rat fragen konnte und der sehr gerne im Theater Vorträge hielt oder in dem sehr schönen Foyer des neuen Schauspielhauses mitdiskutierte. Als ich die Nachrufe in den Zeitungen las, fragte ich mich sofort, ob er noch die großen Demonstrationen gegen Rechts in Hannover, in Hamburg, in Berlin, hier in Bremen erlebt hatte. Es hätte ihn sicher gefreut und ich wäre gespannt gewesen auf seine Analyse – welche Erfahrung manifestiert sich in dieser Öffentlichkeit?
Öffentlichkeit und Erfahrung – Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit war mein erstes soziologisches Theoriebuch, das ich während meines Studiums in Göttingen gelesen habe. Das berühmte Buch von 1972 ist von Oskar Negt und Alexander Kluge nach eigener Auskunft Satz für Satz gemeinsam geschrieben – genau wie die zwei späteren gemeinsamen Bücher: Geschichte und Eigensinn (1981) und Maßverhältnisse des Politischen (1992). Negt schrieb daneben Dutzende Bücher, über Intellektuelle und Gewerkschaften, Europa und Philosophie, die SPD und die Romantik, und seine Leitsterne Marx und Kant. In einem Nachruf heißt es: „Negt war als Denker immer solide, nie genial. Das war nicht schlimm – an unsoliden Genies war in der Linken kein Mangel. Er war ein Erfahrungswissenschaftler, mehr als ein Theoretiker.“
Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung, 1968 erschienen, war sein erstes und, wie er später einmal sagte, vielleicht einflussreichstes Buch. Kritische Theorie mit Gewerkschaftsarbeit in der Bundesrepublik der sozialliberalen Ära zu verbinden, das war das Ziel des jungen Assistenten von Jürgen Habermas, oder anders: die IG Metall mit Adorno zu versöhnen. Schon damals ging es ihm darum, lebendige Zusammenhänge herzustellen und sich nicht in Theoriezirkeln zu verbarrikadieren. „Die Revolution gerade nicht als Tat von Revolutionären, sondern als kritische, solidarische Anstrengung von Lehrerinnen, Gewerkschaftern, Sozialarbeiterinnen, Arbeitern und Angestellten in ihren jeweiligen Stellungen aus dem Elend der Verhältnisse das Beste zu machen. Wenn möglich sogar noch gut gelaunt.“ – so Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau. Die Glocksee Schule in Hannover war später so ein Versuch von Lehrern, Eltern und Forschenden, freies Lernen zu ermöglichen. Zehn Jahre lang leitete Negt die wissenschaftliche Begleitung dieses Experiments. In einem anderen Nachruf lese ich als eine Negtsche Maxime: „Recht haben ist schön, aber zweitrangig.“
In den 80ern, in denen ich studiert habe, kam aus Frankreich eine radikale Kritik der Moderne und eine vehemente Aufklärungsskepsis, vertreten von Denkern wie Foucault, Derrida, Deleuze/Guattari, Lyotard und anderen, die namentlich Habermas, den großen Rationalisten und Theoretiker der kommunikativen Vernunft angriffen. Habermas antwortete mit zwölf kritischen und durchaus polemischen Vorlesungen über (oder Angriffen auf) die neostrukturalistische Vernunftkritik: Der philosophische Diskurs der Moderne. Ironischerweise war dieses Buch im Grunde meine Einführung in dieses vollkommen neue und zum Teil befreiende Denken, das wir damals begierig aufsaugten. Geschichte und Eigensinn von Kluge/Negt war in diesem Kontext eine listige und wunderbare Antwort, die quer zu allem stand. Das Opus Magnum der beiden erschien 1981: Es war eine noch wildere Collage von Theorie und Erzählung, Märchen und Wissenschaft, Denken und Phantasieren. Gleichzeitig waren diese 1300 Seiten (!) eine komplexe Studie zu Negts marxistischer Ausgangsfrage: Woher stammt unser Arbeitsvermögen? Antworten hatten sie nicht, die Beiden, den fragenden Lesenden beschieden Kluge/Negt: „Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch.“
Ein Theater als Organisationsform ist ein Arbeits- und Beziehungszusammenhang auf Zeit. Wie jede Beziehungsarbeit kostet und produziert ein solcher Zusammenhang Kraft und Mühe. Sein Rohstoff ist der Reichtum an Handlungsenergie, an Erfahrung und an Phantasie der je einzelnen Individuen. Die Bedingung für einen solchen Prozess sei, schrieben Oskar Negt und Alexander Kluge vor mehr als dreißig Jahren in ihrem Maßverhältnisse des Politischen, „dass die Menschen das, was sie träumen, was sie wollen und denken, ohne Verzerrungen und Brechungen durch die Gewaltmassen der Gesellschaft in Wirklichkeit umsetzen können“.
Möglicherweise ist es hilfreich, die Vermutung von Negt/Kluge, dass das Politische als Substanzbegriff der Analyse unzugänglich sei, auf das Theater zu übertragen. Das Theater würde sich dann – wie die Elemente und Komponenten, aus denen sich das Politische speist – der begrifflichen Fixierung entziehen. Die Kraft eines Theaters zeigt sich dann vor allem in den Formen seines Auftretens. Die Energien und Qualitäten eines politischen Projektes wie eines Theaters brauchen nämlich „Zeit, erkennbare Orte, Autonomiefähigkeit der Subjekte, einschließlich einer glücklichen Verbindung von Spontanität und Dauer, ein gegenständliches Gegenüber (Reibungsfläche), den freien Wechsel zwischen Rückzug (Schlaf, Pause, Entlastung) und der Konzentration der Kräfte (Solidarität, Schutz, Wachheit) u.a.m.“
Arbeit in einem Theater hieße also, diese Formen oder Parameter ein Maß finden zu lassen. Wie das gehen könnte, wie ein solches Maßverhältnis sich generieren könnte, ist nur im Dialog zu erkunden und an der realen Praxis zu messen. Natürlich gibt es Erfahrungen, Theorien, Annahmen, Mutmaßungen, Vorsätze, wenn man sich in einen solchen Zusammenhang begibt. Beschreiben kann man das notwendige Maß aber nur anhand der konkreten, sich im Fluss befindenden, einer Fixierung sich entziehenden Praxis. Maßverhältnisse eines Theaters: man kann ein Theater auch leiten ohne Maß, auf rücksichtslose Weise also. Ein solches Theater ist aber immer auch gleichgültig gegenüber so altmodischen Fragen wie der Emanzipation und Autonomie der Subjekte des Handelns und des Spielens. Auch gleichgültig gegenüber jeglicher Form eines Gemeinwesens (auch ein seltsames Wort heute). Die Notwendigkeit eines Stadttheaters begründet sich mit Oskar Negt aus der gemeinsamen Suche nach Auswegen. Es ist – wie es Alexander Kluge an anderer Stelle über den großen und gelassenen Realisten Fontane behauptet –: „niemals in den Terror wirklicher Verhältnisse verliebt, sondern sucht nach Auswegen“.
Glück ist die Erfüllung eines Kinderwunsches, sagt Freud. Alles, was das Kind an Glück und Unglück erfährt, misst es an einem „Nähesinn“, an dem Gefühl, die ganze Welt werde durch konkrete, anfassbare, ansprechbare Menschen reguliert. Kunst speist sich zu großen Teilen aus eben diesem Gefühl. Ein gelassener Realismus in der Theaterkunst könnte meinen: Genauigkeit in der Wiedergabe realer Erfahrungen. Die Wirklichkeit antwortet nicht immer oder fast nie auf die Wünsche der Menschen. Es sei also sehr unwahrscheinlich, schreiben Kluge/Negt, dass Realismus von selbst und direkt und plausibel entstehe. Es brauche eine antirealistische Haltung gegen das Unglück in den realen Verhältnissen. Erst eine Leugnung des reinen Realitätsprinzips befähigt, realistisch und aufmerksam hinzusehen. Auch auf einen unwahrscheinlichen Zusammenhang wie ein Ensemble.
„Gewonnen kann durch Trübseligkeit nie etwas werden“: das ist von Theodor Fontane – gefunden bei Kluge/Negt. Und ich persönlich wüsste gar nicht, wie ich im Theater arbeiten könnte, ohne den Gedanken eines möglichen Zusammenhangs zu verfolgen – in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen, jede beschreibbar für den Moment, jedes in Bewegung. Und doch auch ein gewollter Zusammenhang auf Zeit, fragil und verletzlich – wie jede Beziehung. „Im begrenzten Einzelverhältnis gibt es diese Auswege nicht, sondern es kann sie, wenn es sie überhaupt geben soll, nur im Kooperativ, d.h. in Zusammenhängen geben, und im Zusammenhang gibt es immer einen Ausweg.“ Auch das ist von den beiden, Oskar Negt und Alexander Kluge.
Negt versuchte mit Kluge und mit vielen anderen Begleiterinnen und Begleitern – er arbeitete nie alleine –, die Zusammenhänge von Öffentlichkeit und Erfahrung begrifflich neu zu bestimmen: „Öffentlichkeit als kollektiver Produktionsprozess, dessen Gegenstand zusammenhängende menschliche Sinnlichkeit ist.“ Oskar Negt verströmte dabei im Gespräch ein ansteckendes Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschlichen. „Es gibt immer eine Lösung.“
Veröffentlicht am 7. Februar 2024