Die Giganten kämpfen, aber unter den Unbeteiligten fallen die Opfer

Antigone Akgün im Gespräch mit Dramaturg Stefan Bläske über ihr neues Projekt „Leer/Stand“ frei nach Bertolt Brechts „Der Brotladen“.

Brecht ist ein Evergreen, so oft gespielt, dass manche auch schon gähnen. Was fasziniert dich an ihm?

Antigone Akgün: In meiner künstlerischen Arbeit beschäftigt mich, als nicht-weiß gelesene Person, wie man Räume für die Perspektiven strukturell weniger privilegierter Stimmen schaffen kann. Und da kommt man, finde ich, an Brecht nicht vorbei. Für mich zählt er zu den ersten Autor:innen, die sich von der Darstellung elitärer Figuren hin zur Auseinandersetzung mit den Lebensrealitäten arbeitender Körper gewandt haben. Weniger hinabblickend als manche im Naturalismus und in einer ehrlichen Form. Das sollte doch auch eine Qualität des Theaters sein: Nahbarkeit und Multiperspektivität.

In Bremen spielen wir den Blockbuster „Dreigroschenoper“ und bereiten die „Heilige Johanna“ vor – der „Brotladen“ gilt als Vorläufer.

Antigone Akgün: Ja, genau. Der Brotladen ist Fragment geblieben und einige Sequenzen flossen dann über in die Heilige Johanna. Allerdings hat sich Brecht zusammen mit seiner langjährigen Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann im Brotladen intensiver mit dem Phänomen der Heilsarmee auseinandergesetzt. Sie wollten am Beispiel der Heilsarmee zeigen, wie Hilfsorganisationen von Armut und Not profitieren. Außerdem lässt sich im Fragment Kritik an Institutionen, die nur Versprechungen machen oder kurzfristig helfen, nicht aber an strukturellen Veränderungen interessiert sind, erkennen. In seinen Notizbüchern hat Brecht seinen Brotladen immer als „höchsten standard technisch“ beschrieben, also er sah da wohl eine besondere Qualität, die aber Geheimnis bleibt, da das Stück ja nie vollendet wurde.

Wie verbindet ihr Brechts Fragment mit dem Hier und Heute? 

Antigone Akgün: Im Fragment wird sehr ausführlich veranschaulicht, wie in kapitalistischen Strukturen immer weiter nach unten getreten wird: Ein Kleinunternehmer beutet seine Arbeiter aus und wird zugleich von einem Großunternehmer ausgebeutet, der wiederum in Abhängigkeit zu Großkonzernen steht – das ist heute ja leider nicht anders und das ist erschreckend, wenn man bedenkt, dass das Fragment 1929 verfasst wurde. Die Thematisierung von Ausbeutung mag heute reflektierter sein, auch dadurch, dass in der vernetzten Welt mehr Stimmen zu Wort kommen können als 1929. Dennoch fehlt noch immer ein Bewusstsein über die Ausmaße von Ausbeutung und eine historische Verantwortung. 

Ist da nur Ohnmacht oder siehst du Hoffnung und Verbesserungen? Welche Rollen spielen Utopien und Revolutionsphantasien?

Antigone Akgün: Utopien sind wichtig, sie setzen das Denken frei. Es braucht aber auch ein Bewusstsein über die Realität, finde ich: Wie hängen bestimmte Phänomene zusammen? Was sind Strukturen, wie sind sie gewachsen? Welche Allianzen braucht es, um sie zu durchbrechen? Übrigens finde ich die Beschreibung einer Ohnmacht erst einmal auch sehr produktiv, weil sie Ergebnis eines Erkenntnisprozesses ist: Mir ist meine Ohnmacht bewusst geworden, jetzt erst kann ich was tun, wenn ich es will.

Zum Schluss noch ein Lieblingszitat von Brecht?

Antigone Akgün: Kein super bekanntes Zitat, aber im Brotladen spricht der Chor der Arbeitslosen sehr poetisch:


Wehe unter den Giganten entbrennt ein Kampf.

Wer wird ihn bezahlen?

Sicherlich doch der Gigant nicht.

Wehe, unser Gigant wankt!

Auf wen fällt sein brechendes Aug begehrlich?

Sicherlich auf uns!

Denn die Giganten kämpfen, aber

Unter den Unbeteiligten fallen die Opfer!

 

 

Veröffentlichung: 26.4.22