Die März-Kolumne: 150 Tage – Bring them home now

Michael Börgerding über Meinungsfreiheit, Zivilcourage und die Notwendigkeit, Haltung zu zeigen: mit einem Aufruf des Freundeskreises der israelischen Geisel Hersh Goldberg-Polin zur Kundgebung am 4. März.

„Die Schande von Berlin“. Was war passiert: Bei der Berlinale-Preisverleihung hatte es von einigen Jury-Mitgliedern und Preisträger:innen Kritik an Israel und deutliche Solidaritätsbekundungen mit Palästina gegeben – dabei fielen auch das Wort Genozid und das Wort Apartheit. Das eine Wort ist so falsch für die israelische Kriegsführung, wie das andere Wort unangemessen für das gelebte Leben im demokratischen Staat Israel. Aber war das eine Überraschung? Hatte niemand damit gerechnet? Und was daran genau ist jetzt antisemitisch? Und vor allem: Rechtfertigt es diesen Empörungstsunami über einen Antisemitismus in der deutschen Kulturszene? „Klatschen, feiern und dann gute Nacht? Der Samstagabend auf der Berlinale ist eine vollkommen reale Schauergeschichte zum Thema Antisemitismus in Deutschland im Jahr 2024“, konnte man in der Süddeutschen Zeitung lesen. Und dass die Kulturszene in Deutschland ein Antisemitismusproblem habe. Ernsthaft?

Auch ich verzweifle in den letzten Wochen, Monaten (150 Tage sind vergangen seit dem 7. Oktober) oft über Menschen aus meinem Umfeld, die, wie Nils Minkmar schrieb, „gemäß der Ideologie der Hamas einem frühen und grausamen Tod versprochen sind: Künstlerinnen und Künstler, Feministinnen, queere Personen“, wenn genau diese Menschen sich für die Sache der Palästinenser und gegen Israel einsetzen, ohne von der Hamas zu reden. Als bedrohe diese Hamas nicht auch ihr oder unser Lebensmodell überhaupt. Aber sind sie deswegen gleich alle Antisemitinnen und Antisemiten? Ich glaube nicht. Kann man die Bilder von Tod, Verwüstung und Hoffnungslosigkeit aus Gaza sehen, ohne zutiefst zu verzweifeln und zu glauben, dass man sich zumindest irgendwie solidarisch mit dem palästinensischen Volk zeigen müsse? Natürlich ist da viel gefährliches Halbwissen im Spiel, aber auch ein tiefes Unrechtsempfinden und ein aufrichtiges Mitfühlen, das allerdings merkwürdig wenig weiß vom Anlass all dessen.

Natürlich muss man weiter streiten und ein paar einfache Dinge immer wieder festhalten, wie es Hasnain Kazim, Sohn indisch-pakistanischer Einwanderer:innen, geboren in Oldenburg, sehr einfach und klar formuliert hat, in einem Text, in dem er davon berichtet, dass er seinen Standpunkt in Pakistan auf einem Literaturfestival, zu dem er eingeladen war, vortragen wollte und nicht konnte, nämlich, „dass eine Zwei-Staaten-Lösung das Ziel ist, das aber nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 auf friedliche Kibbuz-Bewohner und jugendliche Raver natürlich in weite Ferne gerückt ist. Und ja, ich sehe den israelischen Regierungschef Netanjahu sehr kritisch, und ja, ich bin dafür, dass Israel ein Recht auf Verteidigung hat, und ja, ich kritisiere das Vorgehen radikaler Siedler und die Verhältnismäßigkeit des derzeitigen militärischen Vorgehens Israels in Gaza. Aber: Ich sehe in erster Linie die milliardenschwere Terrororganisation Hamas in der Pflicht, die Geiseln, die sie immer noch festhält und von denen sie schon viele ermordet hat, freizulassen, ihre täglichen Raketenangriffe zu stoppen und die Waffen niederzulegen.“

Dass Hasnaim Kazim und Ronya Othmann, die ebenfalls zu diesem Festival eingeladen war, ihre Meinungen dort nicht sagen durften, dass Ronya Othmann als „Zionistin“ unter Lebensgefahr das Land verlassen musste, während in Berlin auf einer Preisverleihung Solidaritätsadressen mit Palästina verlesen werden durften, spricht doch sehr für unser Modell der Meinungsfreiheit. Ich will nicht missverstanden werden, Antisemitismus muss verhindert, bekämpft, bestraft werden. Und natürlich hätte nicht nur ich mir gewünscht, dass in Berlin jemand aufgestanden wäre und widersprochen hätte wie bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, als Slavoj Žižek meinte, er könne den Terrorangriff der Hamas kontextualisieren. Aber hätte ich das getan? Mich das getraut?

Viktorie Knotková war lange bei uns Dramaturgin im Schauspiel, sie kommt aus Brünn, wo sie jetzt wieder arbeitet, und war zu Besuch in Bremen. Wir haben uns über etwas unterhalten, dass Verzeihen heißen könnte, über den Torwart Bert Trautmann, den deutschen Nazi-Torwart aus Bremen, der in Manchester nach dem Krieg weltberühmt wurde, über Mesut Özil und seine deutsch-türkische Geschichte und über die lustigen Vater-Sohn Geschichten ihres Freundes Dmitrij Kapitelman. Über ihre jüdische Vaterfamilie, über Robin Sondermann, früher bei uns im Ensemble, und über seine Mutter, die Malerin Sylvia Goebel, die in den 70ern im Jerusalem gelebt hat, über meine katholische Mutter, die jetzt zwei jüdische Urenkel hat, weil mein Neffe und Patensohn in Berlin Kinder mit seiner jüdischen Freundin hat. Über Vögel, das Stück, das Alize Zandwijk hier inszeniert hat und das sie als Dramaturgin begleitet hat. Viktorie hat dabei etwas sehr Schönes oder Kluges gesagt, nämlich, dass wir uns bei jeder Äußerung hier überlegen sollten, ob es den Menschen in Israel oder Palästina hilft oder nur uns irgendwie gut tut.

Das frage ich mich jetzt auch, wenn ich schon wieder eine Kolumne über Israel schreibe. Deswegen würde ich gerne den jungen Menschen das Wort geben, die als Freundeskreis der israelischen Geisel Hersh Goldberg-Polin immer wieder an das Leid der Geiseln der Hamas erinnern. Sie haben meine Solidarität und meinen großen Respekt. Hersh Goldberg-Polin war Besucher beim Super Nova-Festival, als die Terroristen der Hamas am Morgen des 7. Oktober die Besucherinnen und Besucher dort angriffen, vergewaltigten, verschleppten und ermordeten. Goldberg-Polin ist ein großer Werder-Fan und seine Freunde und Freundinnen sind es auch. Die Bremer Ultraboys und die Infamous Youth gehören zu diesem Kreis der Freund:innen und sie rufen gemeinsam zu einer Kundgebung am 4. März auf dem Goetheplatz mit folgenden Worten, die auch über den Tag der Kundgebung Bestand haben werden:  

„Zurzeit werden noch über 130 Geiseln, die am 7. Oktober aus Israel verschleppt wurden, im Gazastreifen festgehalten. Einige –  wie Inbar Haiman – leben nicht mehr, und werden über ihren Tod hinaus festgehalten. Von anderen – wie Noa Argamani – gibt es von den Hamas-Terroristen veröffentlichte verstörende Videobotschaften. Von den meisten wiederum – wie Hersh Goldberg-Polin – gibt es kein Lebenszeichen und keine Auskunft seit nun fast 150 Tagen.
Sie müssen alle zurückgebracht werden.  

Die Berichte der seit November befreiten Geiseln machen den unvorstellbaren Horror deutlich, zu dem die Hamas fähig ist. Der Sadismus, mit dem Videos verbleibender Geiseln, junger Frauen, von der Hamas als Druckmittel verbreitet werden, ist nicht auszuhalten. Naama Levy in Gefangenschaft zu wissen, die am 7. Oktober mit vollgebluteter Jogginghose von Hamas-Terroristen auf der Ladefläche eines Jeeps verschleppt wurde, muss bei allen Feminist:innen die Forderung auslösen:
Free the hostages! Believe Israeli women! Bring them home now!

Wir laden euch und Sie herzlich ein, am 4. März, oder – am einhundertfünfzigsten 7. Oktober – mit uns auf dem Goetheplatz zusammenzukommen. Wir werden auf die Situation der Geiseln und Angehörigen eingehen, und freuen uns über eine Teilnahme mit Respekt und Empathie. Bei der Veranstaltung möchten wir das persönliche Schicksal der betroffenen Menschen in den Vordergrund stellen. Wir bitten deshalb darum, keine Fahnen mitzubringen. Gerne können Fotos der Geiseln und Kerzen im Glas mitgebracht werden.“

 

 

Veröffentlicht am 1. März 2024