Die Musikalität der Körper
Im März kommt die neue Unusual Symptoms Produktion „Fabula“ ins Kleine Haus. Choreografin Claire Croizé über ihr Interesse am Zusammenspiel von Musik, Mensch und Choreografie.
*** English version below ***
Als kleines Kind habe ich meiner tanzenden Schwester, die damals einen sehr expressionistischen Stil pflegte, gelegentlich beim Training zugesehen. Im Alter von vier Jahren begann ich damit, ihr nachzueifern. Meine Eltern waren außerdem große Theaterfans, und nahmen mich oft mit in Vorstellungen. Später sahen wir immer häufiger Arbeiten von zeitgenössischen Tanzkünstler:innen, und so entdeckte ich mit 15 zunächst die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und ihre Kompanie Rosas sowie später die kanadische Tanzkompanie La La La Human Steps, deren Arbeiten mich schließlich vollkommen überwältigten. Ich sah damals ein Stück mit der kanadischen Tänzerin Louise Lecavalier, die heute selbst eine weltberühmte Choreografin ist. An den Titel erinnere ich mich nicht mehr, aber das Gefühl, dass mich dabei erfasste, ist mir noch allzu präsent. Ich wollte die Bühne mit ihr teilen, mich bewegen wie sie, die gleichen Empfindungen teilen, dieselbe Körperlichkeit erfahren und zum Ausdruck bringen. Zu diesem Zeitpunkt begann ich zu spüren, dass das Tanzen das Einzige war, das ich ohne meine Eltern tun konnte. In das sich niemand einmischen konnte. Von dem mir niemand sagen konnte, wie ich es zu tun hätte.
Es war allein meine Sache und ich wusste: Okay, das hier ist es.
Tanz kann Befreiung sein. Ich zögere, diesen Gedanken auszusprechen, denn ich spreche aus der privilegierten Perspektive einer Person, die nicht weiß, wie es sich zum Beispiel anfühlt, in einer Gesellschaftsordnung zu leben, in der das Tanzen per se verboten ist. Aber was ich in der Arbeit von La La La Human Steps vorfand, war ein Ausbruch aus den Konventionen der Zeit. Die Tänzer:innen waren nackt, Homosexualität fand Ausdruck auf der Bühne, es war wild und wie nichts, was ich zuvor gesehen hatte. Im Gegensatz zu den eher klassischen, formalen Tanzstücken, die ich bis dahin kannte, ging es hier um Gefühle, um die Auseinandersetzung mit Identität, erzählt mit Körpern, die so sein durften, wie sie waren. Was ich am Tanz damals so befreiend fand, war, dass ich keine Worte finden musste, um auszudrücken, was ich zu sagen hatte. Von Anfang an war da auch die Verbindung zur Musik. Ich liebe es, zu Musik zu tanzen, aber auch die Musikalität von Körpern wahrzunehmen.
In meiner Arbeit als Choreografin spielen diese Bezüge eine große Rolle, wobei ich stets neugierig darauf bin, die Verhältnisse umzukehren, die Musik dem Tanz folgen zu lassen oder dem Rhythmus der Stille zu folgen.
Als ich Ende der Neunziger Jahre schließlich anfing, in Anne Teresa De Keersmaekers Schule P.A.R.T.S. in Brüssel Tanz zu studieren, war alles, was ich über Tanz zu wissen glaubte, dahin. Das Studium war gut, aber schwierig und konfrontierte mich mit einem völlig anderen Verständnis von Bewegung. Ich musste Anatomie pauken, lernen, mein Skelett zum Einsatz zu bringen, meine Bänder. Es war sehr technisch, Emotion war verpönt. In den ersten Jahren versuchte ich, das nachzuahmen, was ich mir bei der älteren Generation Studierender abschauen konnte, im Bemühen, meinen Platz an der Schule zu finden. Das Stück, das ich in meinem Abschlussjahr choreografieren musste, war dann ein echter Ausdruck des Begehrens. Ich liebte Pina Bausch, und wollte eine Arbeit mit Wasser machen, so wie sie. Doch die Schule hatte es den Techniker:innen ohne mein Wissen untersagt, mir den Einsatz von Wasser auf der Bühne zu ermöglichen. Also beschloss ich, dass wir bereits nass auf die Bühne kommen würden. Wenn wir kein Wasser haben könnten, dann würden wir selbst Wasser sein. Und wir trieften, das ganze Stück über schlitterten wir geradezu über die Bühne. Es war ein Erfolg – und ich 21 Jahre alt. Viel zu jung. Ich hatte das Gefühl, noch so viel lernen zu müssen. Also ging ich zu Auditions, bewarb mich bei Pina Bausch, bei Rosas, verschiedensten Choreograf:innen. Niemand nahm mich auf. Eines Tages schlug mir das Produktionshaus PACT Zollverein in Essen vor, ein Stück bei ihnen zu entwickeln – sie hatten meine Abschlussarbeit gesehen. Ich choreografierte ein Solo für mich selbst, arbeitete allein, wollte die Sprache meines Körpers besser verstehen lernen. So begann meine Laufbahn als Choreografin.
Körper können auf so verschiedene Art und Weise sprechen. Meine ganze Arbeit beruht auf dem intuitiven Prozess, ihnen dabei zuzuhören.
Was bewegt diese Körper, was brauchen sie? Welche Gefühle transportieren sie, und wie lässt sich einem Gefühl durch den Körper Ausdruck verleihen? Als ich zum ersten Mal mit Musik von Gustav Mahler gearbeitet habe, mit Material aus Das Lied von der Erde, habe ich gelernt, dass man Emotionen komponieren kann. Man kann sie meistern, kontrollieren, herstellen. Mit dem Körper ist es für mich ganz ähnlich. Auf der einen Seite transportiert er etwas Authentisches – zumindest suche ich danach. Auf der anderen Seite: Wenn ich mit professionellen Tänzer:innen arbeite, mit der Musikalität ihrer Körper, lässt sich diese Musikalität formen – ohne dass es dadurch unecht wird. Das Meisterhafte besteht für mich darin, eine Empfindung zur Form werden zu lassen, so dass sie in eine Komposition übergeht, die jederzeit wiederabrufbar ist, aber offen bleibt für Interpretationen.
Ich höre oft, dass zeitgenössischer Tanz schwer zu verstehen sei. Das ärgert mich und führt dazu, dass ich manchmal beinahe zu viel über das Publikum nachdenke.
Wenn ich mich mit einer Choreografie auf eine bestimmte Musik beziehe, versuche ich, die Musik bis ins Detail zu ergründen. Komposition, Bedeutung, Kontext – das inspiriert mich sehr. Neben dem Intuitiven gibt es also auch diesen intellektuellen Zugriff, der die Dramaturgie meiner Arbeiten beeinflusst. Vor einigen Jahren wurde mir das plötzlich zu eng, ich hatte den Eindruck, die Musik diktiert mein choreografisches Denken. Also fing ich an, mit Stille zu arbeiten. Diese Idee von der Musikalität der Körper, jenseits externer Quellen von Musik und Geräusch, ist in dieser Zeit entstanden. Heute bringe ich all dies zusammen. Die Stimme der Musik, die Stimmen des Tanzes, der Beleuchtung und der Kostüme – sie bilden eine Polyphonie aus verschiedenen Ebenen, die sich aufeinander beziehen und sich gegenseitig antworten. Gleichzeitig ist es für mich auch wieder interessanter geworden, anstelle von klassischer oder Avantgarde-Musik mit Pop zu arbeiten. Es ist herausfordernd, im Umgang mit Pop-Musik der Versuchung zu widerstehen, auf einen Beat zu choreografieren. Pop ist häufig mit einer sehr starken kollektiven Bedeutung aufgeladen. Wie kann man dem tänzerisch etwas entgegenstellen, das eine Offenheit behält? Für meine kommende Arbeit Fabula werde ich mit Musik der belgischen Band Zwerm arbeiten. In den Strophen der Songs verbinden sich persönliche Texte mit chorischen Passagen. Es findet also eine ständige Bewegung zwischen dem Intimen und dem Kollektiven statt. Ich möchte versuchen, dass darüber alle eins werden, Künstler:innen und Publikum. Ein bisschen wie in einer Messe, nur ohne den katholischen Gott. Wir werden wohl eher den God of Rock’n’Roll anrufen.
Aufgeschrieben von Gregor Runge, künstlerischer Co-Leiter Tanz am Theater Bremen.
*** English version ***
March will see the unveiling of new Unusual Symptoms production “Fabula” at Kleines Haus. Choreographer Claire Croizé about her interest in the interplay between music, humans, and choreography.
When I was a small child, I occasionally watched my dancing sister train, who, back then, cultivated a decidedly expressionist style. I began emulating her when I was four. My parents were also great theatre enthusiasts who often took me to see performances. Later on, we watched more and more works by contemporary dance artists, and so I first discovered Belgian choreographer Anne Teresa De Keersmaeker and her company Rosas when I was 15, which was later complemented by Canadian dance company La La La Human Steps, whose works would eventually completely overwhelm me. Back then, I watched a piece featuring Canadian dancer Louise Lecavalier who is a world-renowned choreographer herself now. I cannot remember the title, but the feeling that gripped me remains all too present. I wanted to share the stage with her, share the same sensations, experience and express the same physicalness. At this moment it dawned on me that dancing was the only thing I could do without my parents. That nobody could meddle in. That nobody could tell me how I should do it.
It was my thing alone, and I knew: Okay, this is it.
Dance can be liberating. I hesitate to utter this thought, because I speak from the privileged perspective of a person who does not know how it feels, for example, to live in a society in which dance is forbidden per se. But what I found in the works of La La La Human Steps was breaking out of the conventions of the time. The dancers were naked, homosexuality found expression on stage, it was wild and unlike anything I had seen previously. In contrast to the more classical formal dance pieces I knew up until then, this was about emotions, about dealing with identity, told with bodies who were allowed to be what they were. What I found so liberating in dance then was that I did not have to find words to express what I had to say. The connection to music has always also been there. I love dancing to music but also to perceive the musicality of bodies.
These references play a big part in my work as a choreographer, whereas I am always curious about reversing the relations, letting music follow dance, or following the rhythm of silence.
When I finally started studying dance at Anne Teresa De Keersmaeker’s Brussels-based P.A.R.T.S. school at the end of the Nineties, everything that I thought I knew about dance went to shambles. The education was good, but also hard, and it confronted me with a wholly different understanding of movement. I had to read up on anatomy, had to learn to apply my skeleton, my ligaments. It was very technical; emotions were frowned upon. During the first few years, I attempted to copy what I could glean from the older generation of students, in my effort to find my place at the school. The piece I had to choreograph in my final year, then, was a true expression of desire. I loved Pina Bausch, and I wanted to do a work with water, just like her. But the school, unbeknownst to me, forbade the stage mechanics to enable my use of water on stage. So, I decided we would enter the stage already being wet. If we were to have no water, we would be water ourselves. And we were dripping; throughout the play, we literally skidded about on stage. It was a success – and I was 21 years old. Much too young. I felt I still had so much to learn. So I went to auditions, applied at Pina Bausch, at Rosas, lots of different choreographers. Nobody took me in. One day, production house PACT Zollverein suggested developing a play at their place – they had seen my graduation piece. I choreographed a solo for myself, I worked alone, wanting to understand my body’s language better. This was how my career as a choreographer started.
Bodies can talk in such a multitude of ways. My whole work rests on the intuitive process of listening to them doing that.
What moves these bodies, what do they need? What emotions do they carry, and how can an emotion become expressed by a body? When I worked with Gustav Mahler’s music for the first time, with material from Das Lied von der Erde (The Song of the Earth), I learned it was possible to compose emotions. You can master them, control them, create them. It is quite similar with the body, for me. On the one hand, it transports something that is authentic - at least, that was what I was searching for. On the other hand: When I work with professional dancers, with their bodies’ musicality, this musicality can be formed – without it becoming inauthentic in the process. To me, the masterful aspect lies in having an emotion take shape so that it transfers into a composition that is retrievable at any time while remaining open to interpretation.
I am often told contemporary dance would be hard to understand. This annoys me and leads me to consider the audience, sometimes almost too much so.
When I refer a certain music with a choreography, I try to explore the music in detail. Composition, meaning, context – that inspires me a lot. Apart from the intuition, there is therefore also this intellectual grasp informing the dramaturgy of my works. Some years ago, this suddenly felt too narrow; I was under the impression that the music dictated my choreographic thought processes. So, I started working with silence. This idea of the musicality of bodies, beyond external sources of music and sounds, formed around this time. The voice of music, the voices of dance, of lighting and the costumes – they form a polyphony of different elements that relate to each other, answering each other. Simultaneously, it became more interesting to me again to work with pop instead of classical or avantgarde music. It is challenging to resist the temptation to choreograph on a beat when working with pop music. Pop is oftentimes charged with very strong collective meaning. How can you oppose this, in dance, retaining openness? For my upcoming work Fabula, I will work with music by Belgian band Zwerm. The songs’ verses connect personal lyrics with ensemble choir passages. So, there is a constant movement between the intimate and the collective. I would like to try to unify them all, artists as well as audience, over that. A bit like in a mass, just without the Catholic god. We will rather invoke the god of Rock’n’Roll.
As recorded by Gregor Runge, Artistic Co-Director Dance at Theater Bremen.
Veröffentlicht am 15. Februar 2023