Die Utopie auf der Bühne
Warum das Raus stärker ist als das Zuhause: Die Dramaturgin Elif Zengin spricht mit Georg Mohr, Professor für Praktische Philosophie an der Uni Bremen.
Die Utopie ist in Literatur, Film, Kunst, aber ja auch in Philosophie ein prominenter Topos. Was ist die Utopie, warum interessieren wir uns dafür?
Georg Mohr: Die Utopie ist eine Form des Imaginierens eines Lebens an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit und kann sowohl eine negative als auch eine positive Funktion haben. Sie eignet sich deswegen ganz besonders für literarische Formen oder für alle Formen von Fiktion, weil es ein Imaginieren ist, aber es ist eben kein freies, ungebundenes Imaginieren. Es ist an eine Gegenwart gebunden und ist eine Art der Reflexion der gegenwärtigen Realität. Sehr oft gibt es Bezüge zwischen dem, was imaginiert wird, und der Situation, aus der heraus imaginiert wird. Man unterscheidet daher zwei Grundtypen. Das eine sind die Utopien, die sich etwas vorstellen, was den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen im positiven Sinne entsprechen würde. Und was da imaginiert wird, sind dann eben Lebensbedingungen, die eine Art von Wunscherfüllung darstellen. Dann gibt es das Gegenmodell, das sind die Dystopien, und die stellen etwas dar, was eher eine negative Vorstellung davon ist, wie wir eben nicht leben möchten. In beiden Fällen gibt es so etwas wie Defizite einer Gegenwart und wir stellen uns vor, wie es wäre, wenn wir sie überwinden würden.
Der magische Realismus, so der literarische Stil von Sven Pfizenmaiers Roman Draußen feiern die Leute, ist ja an sich ein Versuch, aus der Realität auszubrechen. Was macht uns so empfänglich für das Magische, Mystische, Übernatürliche? Ist es die Sinnsuche?
Es ist oft die Vorstellung, dass wir in unserer Gegenwart, in der Realität im gewissen Sinne gefesselt sind, nämlich in bestimmte determinierende Bedingungen. Das Magische, das Mystische ist eine Art Befreiung aus kausal determinierenden Fesseln. Das ist eine Freiheitsvorstellung, die an Sinnvorstellungen gebunden sein kann. Das Magische ist oft etwas, was gedacht wird als ein Ordnungsgarant oder eine Steuerungsinstanz, wenn beispielsweise die Mystik im gewissen Sinne personifiziert wird oder an irgendwelche Heilsvorstellungen und Erlösungsvorstellungen gebunden ist. In der Religion wird an einen Gott geglaubt, der aufpasst, oder eben an Engel, die uns beschützen. Und das fasziniert uns. Es ist ein Grundzug des Menschen, über die faktische Gegenwart hinaus zu sein, ständig, im Denken, im Fühlen, im Vorstellen. Niemals nur faktisch in der Realität zu existieren, sondern immer auch schon darüber hinaus. Das hat mit der Sinnsuche natürlich auch zu tun, weil wir immer geneigt sind, uns in geordneten Zusammenhängen zu sehen. Wir suchen nach dem Sinn im Sinne von Erklärungsmöglichkeiten, Verstehbarkeit und Zuversicht.
Der Roman handelt von Jugendlichen, die sich weder in ihrem Dorf noch in ihren Familien geborgen fühlen. Sie sind umgetrieben von dem Wunsch nach einem Zuhause und nach Zugehörigkeit. Was lässt uns daran glauben, dass wir das, was uns fehlt, in der Ferne oder eben in einer anderen Welt finden würden?
Wenn ich von dem Text ausgehe, sowohl von dem Roman als auch von Ihrer Bühnenfassung, dann habe ich den Eindruck, dass die Figuren sehr eindrucksvoll zu erkennen geben, dass sie sich nicht Zuhause oder auch sogar nicht einmal bei sich selbst fühlen. Das macht das Beklemmende dieser Geschichte aus. Alle halten auf ganz verschiedene Weisen nach etwas anderem Ausschau – die einen knallen sich zu, die anderen schlafen oder sie gehen in eine Diskothek. Das kann man als Entfremdung bezeichnen. Entfremdungserfahrungen sind oft nicht verbunden mit irgendwelchen positiven Alternativvorstellungen von besserem Zuhause, sondern zunächst einmal ist die Tendenz „raus“: Distanz, Entfernung. Es ist in der Tat merkwürdig, dass diese Neigung stärker ist, als zu bleiben. Man könnte stattdessen ja auch sagen, so lange du ein Zuhause hast, egal wie schlecht es ist, ist es vielleicht besser, als gar nicht zu wissen, wo es dich hintreibt. Das ist aber meistens nicht so.
Jenny wird auf der Suche nach ihrer verschwundenen Schwester von einem Türsteher gefragt, wo die Utopie für sie zeitlich liege. Herr Mohr, wo genau auf dem Zeitstrahl würden Sie denn die Utopie verorten?
Sie sagt ja, ganz weit in der Zukunft, wogegen der Türsteher sie nicht reinlässt. Das habe ich so verstanden, dass die Utopie den guten Sinn darin hat, sich nicht zu flüchten in unverbindlich ferne, imaginierte Zukunft. Diese zeitliche Dimension ist natürlich in der Geschichte der Utopien, die wir kennen, in der Regel weit in einer fernen Zukunft oder an einem fernen Ort. Also etwas Unerreichbares. Es wäre aber kein konstruktiver Utopiebegriff, so wie die Figur der Jenny ihn in dieser Szene auffasst, wenn man die Utopie in ferne Zukunft, in ferne Orte verlegt. Konstruktiv wäre, wenn utopisches Denken ein Motor wäre, auf die eigene Gegenwart zu reagieren, das heißt, sich hier und jetzt in die Hand zu nehmen, sich zu verändern und den Weg dahin anzutreten, wo man glaubt, wo ein schätzenswertes Leben sein könnte.
Ja, deshalb mag ich die Vorstellung von der Theaterbühne als Utopie.
Sehr schön, absolut. Ja, man kann sagen, es ist die Kunst. Nicht die Zukunft, sondern die Utopie ist hier auf der Bühne.
Veröffentlicht am 17. Januar 2025