Don Carlo: Väter und Söhne

Historisch gesehen: Regisseur Frank Hilbrich sprach auf der Konzeptionsprobe über die spanische Dynastie von Karl V., Philipp II. und den Infanten Carlos. Dramaturgin Brigitte Heusinger hat den Vortrag zusammengefasst.

Giuseppe Verdis Don Carlo ist eine Familiengeschichte, die Geschichte einer Königsfamilie. Friedrich Schillers Drama umfasst zwei Generationen, die Verdi um eine erweitert. Neben Don Carlos und dessen Vater Philipp II. spielt Großvater Karl V. eine wesentliche Rolle.  Anhand dieser Konstellation wird das gesamte Konfliktpotential verhandelt, das zwischen Generationen vorkommen kann: die Erwartungshaltung der Eltern an ihre Kinder, das Versagen der Kinder vor den Erwartungen der Eltern, das fehlende Vertrauen der Eltern in ihre Kinder, das Leben und die Karriere gut zu bewältigen, die Konkurrenz zwischen den Generationen und die Verzweiflung der Kinder, unter der Last des Erbes der Eltern einen eigenen Platz zu finden.

Dies alles sind uns vertraute Konflikte, Konflikte, die daraufhin hinweisen, wie unfrei wir sind, wie sehr sich die Konflikte und Traumata unserer Eltern in uns festsetzen und wie schwer es ist, sich von ihnen zu befreien.

Karl V., Philipp II. und auch Carlos herrschten an der Grenze vom Mittelalter zur Renaissance, in einer Zeit, in der sich das Weltbild der Menschen komplett veränderte. Der mittelalterliche Mensch lebte in einer Welt, die vertikal ausgerichtet war. Es gab ein deutliches Oben und Unten. Die gotischen Kirchen strebten in den Himmel; unten war der kleine Mensch, oben wohnte Gott. Diese vertikale Achse begann zu kippen. Der Mensch wurde sich seines Selbst bewusst, die Architektur richtete sich horizontal aus und seitdem versuchen wir als Individuen einander auf Augenhöhe zu begegnen.

Karl V. (1500-1558) besaß ein Weltreich, das ganz Westeuropa umfasste. Es war das größte Land, das es in Europa jemals gab.

Karl versuchte es mit größter Autorität zu kontrollieren, spürte aber selbst, wie er seinen christlichen Prinzipien untreu wurde, indem er blutige Kriege zum Teil gegen die eigene Bevölkerung führte. Schließlich zog er ungewöhnliche Konsequenzen, teilte das Habsburger Reich zwischen seinem Sohn Philipp und Bruder Ferdinand in die spanische und die österreichische Linie auf. Er selbst zog sich ins Kloster San Yuste zurück. Karl war es nicht gelungen, gleichzeitig ein guter Kaiser und ein guter Christ zu sein. Sohn Philipp (1527-1598) versuchte die Quadratur des Kreises, indem er von vornherein die Königsmacht mit einem strengen katholischen Lebenswandel verband. Asketisch, streng zu sich selber, vermied er alles, was Spaß macht und verschrieb sich mit Haut und Haar dem Dienst an Krone und Kirche. Dass dieses Vorhaben scheitern musste, ist das Thema der Oper. Kein Herrscher, keine Herrscherin kann isoliert leben, frei sein von Beziehungen, von Freundschaften, von Liebschaften. Philipp war dreimal verheiratet. Carlos (1545-1568) stammt aus Philipps erster Ehe mit Maria von Portugal. Über den historischen Carlos heißt es, dass er einen Erbschaden gehabt habe; seine Eltern waren Cousin und Cousine. Nach einem Sturz auf den Kopf im Alter von 17 Jahren galt er vielen als grundsätzlich unzurechnungsfähig.

Wenn man historische Berichte über Carlos liest, schlägt einem eine unglaubliche Freiheitsliebe entgegen und ein unbändiger Wille, sich selbst zu verwirklichen, gleichzeitig aber auch eine ungeheure Brutalität.

Carlos soll Untergebene und Tiere gequält, Pferde zu Tode geritten und nach einem Streit mit seinem Vater dessen Lieblingspferd erstochen haben. Das mag ein extremer Ausdruck dessen gewesen sein, dass Carlos sich gegen Philipp wehrte, der ihm nicht zutraute, seinem Vorbild zu folgen. Zudem wurde der Sohn kurz gehalten, sein Ansinnen nach Flandern zu gehen, um dort eine Position zu bekleiden, wurde immer wieder zurückgewiesen. Schließlich verbündete sich der rebellische Carlos mit der Opposition. Philipp ließ ihn verhaften. Bei seiner Verhaftung soll Carlos sinngemäß gesagt haben: „Man hält mich für verrückt, aber ich bin nicht verrückt. Das einzige, was mich um den Verstand bringt, ist mein Vater.“ Carlos starb in der Haft. In seine völlig überhitzte Zelle ließ er sich Eiswasser bringen, das er in sich hineinschüttete und so vermutlich an einer Kolik starb.

Er verschied als eine Person – und in diese Wunde legen erst Schiller und dann Verdi ihre Finger – die keinen Platz hatte, sich zu entfalten und der Strenge des Vaters nicht entkommen konnte.

Alle diese Väter und Söhne stehen nicht nur für einen Familienkonflikt und die Schwierigkeiten Macht auszuüben. Sie stehen auch für die Frage, ob es überhaupt menschenmöglich ist, Machtausübung erträglich zu gestalten. Verdi hat immer eine große Sympathie für alle seine Figuren. Für niemanden ergreift er Partei, er spricht gegen niemanden, sondern versucht, alle Figuren zu verstehen. Und so erleben wir nicht nur die Brutalität der Herrschenden, sondern auch die große Einsamkeit, die es mit sich bringt, an der Spitze eines Staates zu stehen.