Über „Drei Schwestern“
Geplant war die Premiere eigentlich für den Mai 2020, aufgrund der Pandemie musste sie zwei Mal verschoben werden. Die Weltgeschichte aber ging weiter. Dramaturgieassistentin Jana Uhýrková und Dramaturgin Viktorie Knotková haben mit dem Regisseur Dušan David Pařízek gesprochen.
Haben die Ereignisse der letzten Monate dein Verhältnis zur russischen Literatur verändert? An manchen Theatern wurden Aufführungen russischer Texte zumindest problematisiert. Das Prager Nationaltheater hat im März diesen Jahres auf Wunsch seines Opern-Ensembles eine für die Saison 2022/2023 geplante Neuproduktion von Tschaikowskis „Goldenen Schuhen“ aus dem Programm genommen. Grund: einige Couplets über die siegreiche russische Armee.
Dušan David Pařízek: Seit dem zunächst unauffälligen, dann immer klarer werdenden Festhalten von Putin und Medwedew an der Macht, im Osten oft umschrieben mit dem hier weniger gebräuchlichen Wort „Tandemokratie“, werde ich in meiner Wahrnehmung Russlands aufmerksamer und vorsichtiger. Nach den ersten offiziell bestätigten Kampfhandlungen russischer Truppen auf der Krim, das heißt seit Ende Februar 2014, habe ich begonnen, mich von einer für die Zeit meines Erwachsenseins bestimmenden Utopie zu verabschieden. Der Februar 2014 war der Anfang vom Ende einer von europäischen Staaten mehrheitlich beschlossenen geopolitischen Lage, die auf diesem Kontinent dauerhaften Frieden sichern sollte. In meinen Arbeiten kommt das seither immer wieder zum Ausdruck. Vor allem in Versuchen um Vergangenheitsbewältigung wie Macht und Widerstand, Trutz oder Was Nina wusste.
Alles Appelle, die Illusion der friedlichen Revolutionen von 1989 nicht allzu ernst zu nehmen, die neuen Machtverhältnisse und Bemühungen um eine freiheitliche Grundordnung zu hinterfragen ...
Dušan David Pařízek: Die, je nach Land, unterschiedlich seriösen Bemühungen um eine freiheitliche Grundordnung. Und vor allem: Appelle, den Frieden nicht für selbstverständlich zu halten, sondern als Aufgabe aufzufassen, als ein „work in progress“. Der 24. Februar 2022 hat auch in dieser Hinsicht etwas verändert. Aus einigen meiner gut gemeinten, naiven Bemühungen um das Abtragen politischer und historischer Altlasten sind plötzlich Zeitstücke geworden, die tagespolitische Fragen aufwerfen. Leider. Putins „militärische Spezialoperation“ ist das letzte in einer langen Reihe von fragwürdigen Ereignissen, denen viele über Jahre nicht die entsprechende Bedeutung beigemessen haben. In dieser Situation ein Stück von Tschechow nicht herauszubringen wäre Gratismut. Eine leere quasi-politische Geste. Keine Sorge. An den Drei Schwestern wird der Blick auf eine Welt, die sich um den mit sich selbst beschäftigenden Kulturbetrieb herum wieder einmal rasend schnell verändert, nicht spurlos vorbei gehen. Trotzdem bleibt das alles nur Theater. Das Leben ist anderswo, wie Kundera schreibt.
Aber es wirkt sich auf deine Lesart der „Drei Schwestern“ aus ...
Dušan David Pařízek: Dass absurde russische Umdeutungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts als offizielle Begründungen des Angriffs auf die Ukraine herhalten müssen, werden wir nicht direkt zum Thema machen. Wir nehmen es zum Anlass, mit Tschechow an den Anfang der Geschichte zurückzukehren – an den Beginn des Zeitalters der Weltkriege und totalitären Regime. So können wir eine Gesellschaft zeigen, die mit dem Begriff „Moskau“ fehlgeleitete Erwartungen, Ansprüche und Ambitionen verbindet: Nachkommen jahrhundertelang klein gehaltener und nur in Angst vor der Willkür der Machthabenden existierender russischer Menschen, die gerade in Krisenzeiten das Verlangen nach Unterordnung verspüren. Die geleitet werden wollen, die nach Bildern von Männlichkeit verlangen, nach virilen Übervätern. Oder entsprechenden Behauptungen davon: nach Männern, die – statt erwachsen zu werden – lebenslang Soldat spielen. Als wären militärische Hierarchien, Konfliktpotential und Gewalt je die Lösung von irgendwas gewesen.
Warum die „Drei Schwestern“ und nicht „Krieg und Frieden“?
Dušan David Pařízek: Was mich bei Tschechows Drei Schwestern immer interessiert hat, ist im Falle der Soldaten das Ziel ihrer Reise. Was, wenn sie – endlich – in einen Krieg ziehen, respektive ziehen „dürfen“? Und was, wenn dieses Endzeit-Szenario von drei Schwestern erlebt wird, die renitent darauf bestehen, dass sie nicht mehr von männlichen Idolen abhängig sind. Und am Ende alle von einer Natascha rechts überholt werden, die gefährliche Eigendynamik entwickelt: Prototyp einer Generation von Erniedrigten, die nicht mehr wie Ungeziefer behandelt werden möchten und aus Frustration und Demütigung die Kraft für ihren Aufstieg ziehen. Frustration, Wut und Rache – schlechte Ratgeber in allen Lebenslagen. Für Angehörige von Putins Administrative scheinen sie derzeit ein wichtiger Antrieb zu sein. Schönes neues Russland. Kein Argument gegen, sondern für Drei Schwestern. Mit Tolstois „Militärischer Spezialoperation“ und Frieden werden sich andere beschäftigen. Es wird noch Anlass dazu geben.