„Eigentlich bin ich nie so ganz zufrieden“
Musikdirektor Stefan Klingele hat in diesem Jahr schon bei drei Opern die Musikalische Leitung übernommen. Brigitte Heusinger, die leitende Dramaturgin im Musiktheater, fragt mal, wie es ihm geht.
Brigitte Heusinger: Vor Premieren strahlst du immer großen Optimismus aus, nach Premieren wirkst du bedrückt.
Stefan Klingele: Nach der Premiere beginnt für mich die Phase der Prüfung mit Abstand und entsprechend auch der Selbstkritik und der Zweifel. Ich frage mich dann, ob die Produktion gut ist, das Konzept aufgeht, wie die Leistung der Sänger:innen und des Orchesters ist, ob das Publikum mitgehen wird und die Kritiker:innen ihren Teil dazu beitragen werden, dass eine gute Arbeit ihre Wirkungskraft ausstrahlt. Eigentlich bin ich nie so ganz zufrieden, aber lasse mir dadurch die Freude trotzdem nicht nehmen. Und klar gibt es nach der Premiere einen inneren Spannungsabfall. In der Probenzeit bin ich gut gelaunt und versuche viel Positives, viel Energie in eine Produktion reinzugeben, damit wir alle gemeinsam etwas Gutes schaffen. Danach bin ich einfach leergepumpt, dann ist kurz Tankstelle angesagt.
Du hast mit den Produktionen Dr. Atomic, Macbeth und Salome einen wahren Marathon hinter dir. Das ist jetzt auch der Anlass unseres Gespräches. Eigentlich ist ein Interview mit dir längst überfällig, denn du bist seit Beginn der letzten Spielzeit wieder in Bremen. Es ist schon dein zweiter Aufenthalt in dieser Stadt. Von 1999 bis 2007 hast du unter der Intendanz Pierwoß hier gearbeitet, zuletzt in einer ähnlichen Funktion wie heute. Die vergangenen acht Jahre warst du Musikdirektor und Chefdirigent an der Musikalischen Komödie Leipzig. Gerade hattest du dich auf eine Phase der Freiberuflichkeit vorbereitet, als der Anruf von Michael Börgerding kam, der dir den Posten des Musikdirektors ab der Spielzeit 23/24 anbot. Doch du wolltest dir keine Zeit lassen, sondern sofort anfangen.
Normalerweise hat man ein, zwei Jahre Vorlauf, in denen man ein Theater von außen betrachtet und sich seine Gedanken macht. Das konnte ich dann Dank des Intendanten direkt hautnah vor Ort tun. Ich bin bei Verdis Don Carlo eingesprungen und habe Ariadne auf Naxos von Richard Strauss dirigiert, mich aber vor allem orientiert. Es ist ein sehr großer Betrieb, den wir hier haben. Ich bin kein Dirigent, der kommt und einfach die gleichen Stücke vorschlägt, mit denen man schon an anderen Orten erfolgreich war, der seine Erfahrungen einfach auf den neuen Ort überträgt. Ich mag es, mich erst umzuschauen, ein Haus verstehen zu lernen und auch zu respektieren, was dort gewachsen ist.
In dieser Spielzeit hast du jetzt schon drei sehr ernste Stücke zur Premiere gebracht: Dr. Atomic: die Bedrohung durch die Atombombe, Macbeth: ein Stück über den Sog des Mordens und der berühmte abgeschlagene Kopf des Jochanaan als Preis für einen Tanz von Salome für ihren Stiefvater.
Das stimmt, ich war ein halbes Jahr quasi „auf der dunklen Seite der Macht“. Alle drei Opern sind wirklich überhaupt nicht heiter. Auch in der Menge der Mitwirkenden waren sie sehr gewichtig und der Regieansatz war jeweils hoch ambitioniert. Solche Opern brauchen Kraft, eine Willensleistung von allen, dass man nicht verzweifelt, aber auch nicht zu euphorisch ist, sondern einfach nur fokussiert auf das Ziel bleibt. Durch die fantastischen Libretti gab es trotzdem höchst verschiedene Abstufungen von „apokalyptisch ernst“ über „manisch gierig“ bis zu „sinnlich brutal“. Meine musikalischen Erlebnisse mit den drei Meisterwerken waren auch deshalb sehr gegensätzlich, das „Drama“ an sich nur ein roter Faden. Nun freue ich mich, dass die nächste Spielzeit für mich persönlich vom Repertoire anders, inhaltlich leichter wird.
Bei Salome wie Dr. Atomic befand sich das Orchester nicht im Graben, sondern auf der Bühne. Du bist sehr offen für unkonventionelle Orchesterlösungen.
Wer in Bremen arbeitet, das betrifft uns ja alle – die Philharmoniker, den Chor, die Solist:innen – muss offen sein. Es ist quasi Grundbestandteil unseres Arbeitsvertrages, dass wir immer wieder auch ungewöhnliche Settings ausprobieren. Bei beiden Stücken – Salome wie Atomic – war entscheidend, den Handlungskern, der zwischen wenigen Personen stattfindet, nach vorne, nah ans Publikum zu bringen. Inhaltlich sind beides eher Kammerstücke, auch wenn die Orchesterbesetzung riesig ist. Daher ist es gut, dass das Orchester auf der Bühne mehr Platz hat und auf der Szene sitzt statt unter einem Deckel. Für mich als Dirigenten ist es allerdings eine B-Lösung und mein Spaß hält sich in Grenzen, da der Kontakt zu den Sänger:innen indirekt ist. Aber wenn etwas als Gesamtergebnis gut funktioniert, trage ich die Entscheidung mit und brauche nicht zu lamentieren.
Und du gibst sogar mal den Stab aus der Hand. Statt vor ihrem Stiefvater zu tanzen, dirigiert unsere Salome Yannick-Muriel Noah statt deiner während der ca. zehn Minuten währenden „Tanzmusik“ eigenhändig das Orchester, während du sie dabei filmst.
Ja, ich wurde gezwungen. (lachend) Ulrike Schwab ist eine freundliche, aber sehr beharrliche Regisseurin und es war schlicht eine geniale Idee mit der Aussicht auf einen Coup. Ich habe Salome schon ein paar Mal dirigiert und viele Male gesehen: Der Tanz ist eine harte Nuss, die man knacken muss.
Ja, statt einer schwachen Frau steht eine starke vor uns. Es geht um Macht. Und im realen Geschehen am Abend repräsentierst du als Dirigent die größte Macht, die sie dir dann raubt.
„Größte Macht“ empfinde ich nicht. Ein Dirigat ist natürlich exponiert, eine zentrale Position, aber ich sehe es einfach als eine Rolle, die jemand ausübt. Unsere dirigierende Salome ist im Übrigen kein Fake. Es ist nicht so, dass heimlich der Konzertmeister oder ich aus dem Verborgenen heraus leiten, sondern Muriel Noah dirigiert mit ihren Armen, ihrer Energie, ihrer musikalischen Ausdruckskraft. Klar haben wir dafür extra geübt, ich habe ihr ein wenig Dirigierunterricht gegeben und ahnte, dass Muriel die Ausstrahlung, die Musikalität und auch die Bescheidenheit hat, dass ein Profiorchester dieses Wagnis akzeptieren kann.
Dir ist es wichtig, ein Theater als Ganzes zu begreifen. Du bist ein Theatermensch, oder?
Ich habe in meinem Leben natürlich auch Konzerte gegeben, aber ich bin doch lieber im Theater. Die Produktionen dauern zwar viel länger, der Aufwand ist deutlich größer, man verdient weniger Geld, es sind viel mehr Menschen beteiligt. Aber ich mag einfach, wenn die Hierarchie keine große Rolle spielt und alle an einem Strang ziehen. Ich stehe deshalb zum Beispiel gerne unsichtbar im Graben und habe kein Problem selbst am Klavier zu sitzen, wenn ein Kollege am Pult steht. Ein Theatergefühl, ein gemeinsames hinter den Produktionen stehen – daran glaube ich fest – braucht es unbedingt. Das entsteht aber nur, wenn sich möglichst viele Menschen quer durch das Haus kennen. Ein Teil meiner Analyse ist, dass viele Abteilungen heute oft am Limit oder drüber arbeiten. Das war früher anders. Manchmal fehlt einfach die Ruhe, mit Menschen aus ganz anderen Bereichen zu reden, um zu hören, was sie so machen. Und so verstehe ich mich durchaus als Bote in diesem Haus.
Veröffentlicht am 21. Februar 2024