Ein dauernder Kampf gegen sich selbst

Über Scham, soziale Herkunft und männliche Rollenbilder schreibt Dramaturg Johannes Schürmann, der die Moks-Produktion Eddy (oder ein anderer) betreut.

Es ist die Geschichte einer Befreiung. In seinem ersten Roman Das Ende von Eddy beginnt Édouard Louis mit der nüchternen und erschütternden Feststellung: „An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung . Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.“

Was bringt einen jungen Menschen zu solch einem vernichtenden Urteil über die eigene Kindheit?

Eddy Bellegueule ist der Name seiner Kindheit, ein Name und eine Identität die Édouard Louis sich nicht ausgesucht hat, die ihm zugeschrieben wurden. Es ist der Name eines echten Kerls. Ein Name für ein Kind, das ein richtiger Junge sein soll, so wie sein Vater es war, wie seine Brüder es sind und so wie alle im Dorf es von ihm erwarten. Auf diese Weise schreibt das soziale Umfeld die Rollenbilder, die ihre gesellschaftliche Struktur dominieren, in Eddys Körper ein – ihre Bilder einer dominierenden Männlichkeit. Eddy Bellegueule wird die Rolle, die der Junge verinnerlicht, die seine Bewegungen steuert und die sein Selbstbild konstituiert.

Um ein echter Kerl zu werden, so wie sein Vater, muss Eddy jedoch einen dauernden Kampf gegen sich selbst führen, gegen den eigenen Körper.

Denn dieser Körper weigert sich immer wieder, die Rolle des echten Kerls richtig zu spielen. Seine Bedürfnisse und sein Begehren widersprechen nicht nur der gesellschaftlichen Norm, sondern auch Eddys Wunsch zu entsprechen und anerkannt zu werden. Dieser Zustand der Verunsicherung und Selbstdisziplinierung verstetigt sich und wird zur persönlichen Dauererfahrung des Jungen. Die Identität des Eddy Bellegueule, eines Jungen, der mit sich selbst und seinem sozialen Umfeld im Widerspruch steht, wird zu einem Mantel der Scham, der sich auf sein Selbstwertgefühl legt. In erschütternder Weise ist sein Schicksal, nämlich als Eddy Bellegueule zum Scheitern verurteilt zu sein, mit dem Schicksal seines Vaters verknüpft: Einem Fabrikarbeiter, dessen Körper an der Arbeit zerbricht und der, als er mit seinem geschunden Körper von der Sozialhilfe lebt, von den staatlichen Institutionen vor die Wahl gestellt wird: „Entweder du stirbst, weil wir dir die Sozialhilfe wegnehmen, oder du stirbst, weil du wieder arbeiten gehst: weil dein Körper durch deine Arbeit oder durch deine Armut zerstört wird. Also entweder du stirbst, oder du stirbst. Das sind die beiden Möglichkeiten, die wir dir geben.“

Die besondere Tragik in der Geschichte von Eddy Bellegueule liegt darin, dass sein soziales Umfeld ihn in keiner Weise gegen diese gesellschaftliche Logik nur scheitern zu können schützt, sondern sie ihm gegenüber scheinbar zwanghaft reproduziert.

Denn so wie dem Vater nur die Möglichkeit bleib, den eigenen Körper kaputt zu arbeiten, um nicht im Elend zu sterben, so bleibt Eddy nur die Wahl zwischen Selbstverleugnung oder Ausgrenzung. Das Ende von Eddy ist buchstäblich eine Befreiung – und nicht allein literarisch – denn der Junge, der Eddy Bellegueule war, schreibt sich darin den ganzen sozialen Ballast, die Scham und seine ihm aufgezwungene Identität vom Leib. Um ein anderer sein zu können.