Ein Hauch von Unendlichkeit
Regisseurin Tatjana Gürbaca im Gespräch mit Dramaturgin Caroline Scheidegger über Macht, Verlorenheit und den moralischen Kompass.
Caroline Scheidegger: Tatjana, du hast erzählt, L’incoronazione di Poppea sei das älteste Werk, das du bisher inszeniert hast. Was reizt dich an einem Stück, das fast 400 Jahre alt ist?
Tatjana Gürbaca: Poppea ist nicht nur das älteste Stück, das ich bisher inszeniert habe, sondern eine der ältesten Opern, die wir überhaupt kennen. Von Monteverdi, der um die 18 Opern geschrieben hat, sind nur drei Opern mehr oder weniger komplett überliefert und wir wissen nicht ganz genau, wie die Stücke damals aufgeführt wurden oder wie sie instrumentiert waren. Poppea ist 1642/43 – Monteverdi war da schon 75 Jahre alt – für das neu gebaute Opernhaus in Venedig entstanden und es sind zwei Fassungen überliefert: eine frühere, venezianische und eine spätere, die neapolitanische Fassung. Poppea – und das ist schon besonders – ist kein fertiges Stück, sondern eine Sammlung an musikalischem Material, aus dem man sich im Grunde alles ein bisschen selbst zusammensuchen und in eine Spielfassung bringen muss.
Christoph Spering und du habt eine sehr reduzierte Fassung erstellt. Was hat euch dabei geleitet?
Tatjana Gürbaca: Was mich an Poppea sehr fasziniert, ist, mit wieviel Liebe und Kenntnis Monteverdi auf die Antike blickt und aus dem Geist der Renaissance einem historischen Stoff neues Leben einhaucht und zu einem Drama entwickelt, das sich anfühlt wie ein Stück von Shakespeare. Poppea ist prall an Leben, Komödie und Tragödie durchmischen sich und es treten einem extrem reiche und vor allem erstaunlich moderne Charaktere gegenüber. Poppea beruht auf einem historischen Stoff und handelt von Persönlichkeiten, die es wirklich gegeben hat. Und die sind unglaublich aufregend und aufgeladen mit Sex and Crime. Auf diese Charaktere wollten wir uns konzentrieren und haben daher das doch sehr personenreiche und verzweigte Originalstück, über das man leicht die Übersicht verlieren kann, auf ein intensives Kammerspiel reduziert.
Von den drei Götterfiguren aus dem Originalprolog ist bei uns nur Amor auf der Bühne. Ist er die inhaltliche Triebkraft?
Tatjana Gürbaca: Amor behauptet ja zu Beginn, er sei der Herrscher der Welt, er werde über alles siegen und der Liebe zwischen Nero und Poppea zum Triumph verhelfen. Spannend ist, dass er recht behält. Amor gewinnt am Ende tatsächlich, Poppea wird Neros Frau und zur Kaiserin gekrönt. Und dennoch verliert Amor alles. Sein Sieg ist ein schrecklicher und keiner wird am Ende glücklich. Nicht einmal Poppea. Aus der Geschichte wissen wir, dass Nero Poppea nach nur drei Ehejahren umgebracht hat und der Triumph, mit dem die Oper endet, einen hohen Preis erforderte und nur ein vorübergehender war.
Nero ist als einer der skrupellosesten und verrücktesten Herrscher in die Geschichte eingegangen. Wer ist Nero für euch?
Tatjana Gürbaca: Mich hat die Frage beschäftigt, wo das Gewissen bleibt, wenn man Menschen ins Exil schicken oder in den Selbstmord treiben oder umbringen lassen kann. Der junge Nero stand zu Beginn seiner Regierungszeit noch stark unter dem Einfluss seiner Mutter Agrippina und seines Lehrers, des Philosophen Seneca. Es waren fünf gute Jahre. Doch nach und nach befreit er sich aus diesen Verbindungen, er wird mächtig und beginnt, die Kontrolle zu verlieren. Es geht ihm zu gut. Er hat zu viel, er darf zu viel. Es gibt keine Grenzen, es gibt nur dieses grenzenlose Begehren, sich zu spüren oder sich selber als Mittelpunkt dieser Welt zu behaupten – ein durchaus modernes Problem. Wir leben in einer Zeit, in der wir keinen Gott oder keine Götter mehr über uns kennen. Aber gleichermaßen wirken Nero und Poppea auch wie verlorene Kinder, die ganz stark auf die Zuneigung oder Loyalität des anderen angewiesen sind, also auch unheimlich in einer gegenseitigen Abhängigkeit stecken. Sie sind im Zentrum der Macht, aber sie sind eben auch bedürftig, traurig und einsam.
Poppea ist durchaus eine moderne Frauenfigur, oder?
Tatjana Gürbaca: Wir wissen von Poppea, dass sie älter als Nero war und sehr erfahren am Hof. Vater wie Ehemänner kamen aus der Politik. Offenbar war sie sehr gutaussehend, berühmt wegen ihrer langen roten Haare und ihrer Bäder in Eselsmilch. Tacitus beschreibt Poppea als eine spitzzüngige Frau, die Personen erledigen konnte, indem sie einfach die richtigen Fragen stellte. Sie muss äußerst intelligent, faszinierend und unterhaltsam gewesen sein und so tritt sie uns auch in der Oper entgegen. Als eine Frau, die es versteht, auf jeder Party sofort zum Mittelpunkt zu werden, die geschickt alles lenkt und leitet und der Nero in fast kindlicher Abhängigkeit verfallen ist.
Gibt es eine positive Figur in diesem Stück?
Tatjana Gürbaca: Der stärkste Antipode zu Nero ist sicher Seneca, der über weite Strecken hinweg das Gewissen von Nero ist, seine Moral vertritt oder besser: ersetzt. Sein früherer Einfluss ist spürbar, aber inzwischen ist auch er abhängig von Nero und das macht ihn angreif- und korrumpierbar. Mir erschien aber immer seltsam, wie schnell sich Seneca zum Selbstmord bereit erklärt. Hier spürt man das wichtige, innige und vertraute Verhältnis zwischen ihm und Nero. Das interessiert mich. Wie tief ging das? Wie wichtig ist diese Bindung? Und was macht es mit jemandem, der einen ganz starken moralischen Kompass hat, wenn er jemandem ganz nahekommt, der diesen moralischen Kompass schon komplett verloren hat?
Veröffentlicht am 13. Juni 2023