Ein närrischer Spaß
Regisseurin Sahar Rahimi im Gespräch mit Schauspieldramaturg Stefan Bläske über Rave-Kultur, Normschönheit und ihre inklusive Theaterproduktion „Das Narrenschiff“, die das Festival Mittenmang 2022 eröffnet.
Stefan Bläske: Das Narrenschiff ist eine Moralsatire aus dem Spätmittelalter von Sebastian Brand. Es gilt als das erfolgreichste deutschsprachige Buch vor der Reformation, ist heute aber kaum mehr bekannt. Zu Recht?
Sahar Rahimi: Wenn du mich fragst, natürlich nicht. Das Narrenschiff war zu seiner Zeit ein richtiger Bestseller in Europa, wahrscheinlich weil sich die Leser:innen mit den über hundert verschiedenen Typen von Narren, die da beschrieben werden, identifizieren konnten und sich amüsiert haben. Da war für jede:n was dabei. Wenn wir das heute lesen, dann fällt uns eigentlich genauso zu jedem Narren mindestens eine Person ein, die man kennt, wenn man sie nicht sogar selbst ist. Der Text baut auf Wiedererkennungseffekte, die Spaß machen – damals und heute. Gewisse Formen von Dummheit scheinen sich wohl durch die Jahrhunderte zu ziehen.
Im Ankündigungstext heißt es, euer Narrenschiff sei eine „irritierende Neuinterpretation voller ambivalenter Drastik, schwarzem Humor und stilbewussten Querverweisen auf die Love Parade“.
Sahar Rahimi: Ja wir haben das Motiv der Narrenfeste aufgenommen und gesucht, wo wir die heute finden. Und sind dann auf die Rave-Kultur gekommen – daher der Verweis zur Love Parade. Bei uns sind die Narren Raver, die uns in ihrem Hedonismus einen Spiegel vorhalten. Sie werfen den Blick, den eine Mehrheitsgesellschaft auf sie wirft, zurück. Sie ermächtigen sich der eigenen Bilder und Begehren nach Körperlichkeit, Sex und Reproduktion, und das auf eine anarchisch-schwarzhumorige Weise.
Ihr habt mit Platform-K zusammengearbeitet, einer inklusiven Tanz-Kompagnie aus Gent.
Sahar Rahimi: Ja das war eine großartige Zusammenarbeit! Bei Platform-K erhalten die Tänzer:innen mit und ohne Behinderung eine ganzjährige Ausbildung, zusätzlich gibt es regelmäßige Kooperationen mit Choreograph:innen und Regieteams, die eingeladen werden, Produktionen mit den Tänzer:innen zu entwickeln. So haben wir uns kennengelernt. Die Arbeit mit den Tänzer:innen passiert auf einem hochgradig professionellen Level, sie bringen ihre ganz spezifischen Fähigkeiten mit und es macht Spaß, gemeinsam eine künstlerische Arbeit zu entwickeln.
Ihr habt schon häufiger inklusiv gearbeitet, unter anderem mit dem Theater Thikwa in Berlin oder dem Theater HORA aus Zürich. Es geht oft um Tabus, Sex und Gewalt. Spielt da auch Lust an der Provokation eine Rolle?
Sahar Rahimi: Ne, Provokation find ich eher ein langweiliges Motiv. Es ist eher die Lust daran, sich immer wieder die Frage zu stellen, wo die Grenzen des Menschlichen sind, welche Kriterien, welche Zuschreibungen es gibt, die uns als Menschen definieren. An diesen Grenzbereichen tun sich vielleicht die interessantesten Fragen auf. Das Nicht-Verstehen ist ein entscheidender Motor für unsere Arbeit. Die Arbeit mit den Kolleg:innen mit einer Behinderung passiert aus einem Interesse heraus, sich mit anderen Perspektiven auseinanderzusetzen, die uns herausfordern. Und die Bühnen brauchen andere Körper und Stimmen als immer nur die normschönen und „funktionierenden“.
In Gent wolltet ihr raus in die Stadt, auf die Kanäle, habt in der mittelalterlichen Wasserburg Gravensteen gespielt. In Bremen zeigt ihr, wie schon am Schauspielhaus Bochum, eine klassische Bühnenversion. Magst du den Guckkasten?
Sahar Rahimi: Ja, ich liebe ihn regelrecht! Ich finde, der dunkle Theaterraum ist einer der letzten Freiräume, in dem wir die Möglichkeit haben, uns einer alles beherrschenden Geld-Logik zu entziehen, Gegenlogiken zu entwickeln, oder auch unlogisch zu sein. Der Guckkasten ist wie ein Live-Gemälde, was ich mir anschauen kann. Es ist doch toll, in der Sicherheit eines Plüschsessels irritiert und angeregt zu werden, staunen und nachdenken zu können. Dieser Raum hat eine Freiheit, die uns die Welt nicht gibt.
Veröffentlichung: 17.5.22