Eine Liebeserklärung des Berührungslosen in sieben Stimmen
Das Musiktheaterensemble und Dramaturgin Isabelle Becker über das Wiedersehen und Wieder-Gemeinsam-Singen
Das Programm der musiktheatralen Wiedersehensgala entstand ganz aus dem Geiste der Menschen, die es mit Haut und Haar verkörpern: der Sänger*innen. Seit sechs Monaten standen sie nicht mehr gemeinsam auf der großen Bühne des Theaters, dort, wo sich vor einer gefühlten Ewigkeit noch Alcina, Jakob Lenz und Figuren wie Falstaff (zumindest bis zur GP) tummelten. Umso wichtiger ist es – da sind wir uns im Musiktheater einig –, dass es jetzt wieder mit vereinten Kräften losgeht. Mit Abstand zwar, aber der spielt nun wirklich eine „kleine“ Rolle, wenn es dafür heißt: Endlich nicht mehr alleine singen! Endlich wieder in Beziehung zueinander treten! Endlich wieder die schönsten Duette, Terzette und Ensembles live gemeinsam musizieren!
Oxytocin - Bindungshormon
„Singen macht glücklich“. Was mehr nach einer simplen Floskel klingt, ist inzwischen immerhin wissenschaftlich erwiesen. Nach etwa dreißig Minuten singen schüttet unser Gehirn das Neurohormon Oxytocin aus, auch Bindungs- oder Kuschelhormon genannt. Demzufolge wirkt sich singen genauso wie eine angenehme körperliche Berührung positiv auf den menschlichen Organismus aus. „Oxytocin spielt“, so die Neurobiologin Inga Neumann, „für das Zusammenleben aller Menschen eine große Rolle. Es wirkt prosozial, fördert also ein positives soziales Miteinander“. Will heißen, die Sänger*innen bauen beim gemeinsamen Singen zueinander eine vertrauensvolle Beziehung auf. Aber nicht nur das: Elisabeth von Thadden, Autorin des Buches Die berührungslose Gesellschaft spricht auf unsere gegenwärtige Zeit des unfreiwilligen Abstandes bezogen sogar davon, dass allein das Musikhören ähnliche Reize hervorrufe wie körperlicher Kontakt. Da kommen Sie als Publikum ins Spiel: Wir tun uns also allen etwas Gutes, wenn wir am Samstag miteinander die Premiere begehen, da wir uns „mit Abstand“ musikalisch umarmen und im weitesten und nahen Sinne über die vorgeschriebene Distanz berühren können.
Mit Abstand das Schönste ist für die Sänger*innen …
Was es für unsere Sänger*innen bedeutet, die altbekannten, wenn auch frisch gestrichenen Bretter des großen Hauses wieder zu betreten, hat ein Teil des Ensembles selbst so in Worte gefasst – und ja ein bisschen Pathos ist an dieser Stelle naturgemäß unvermeidbar:
„Nach einer Zeit der Stille ist es jetzt wichtig, unsere Gedanken, Gefühle und Emotionen durch die Musik mit dem Publikum zu teilen. Ich denke, gerade in dieser digitalisierten Zeit, die voller Audio- und Videoaufzeichnungen ist, sind Momente, in denen es eine tatsächliche Verbindung gibt, unbezahlbar. Für mich ist es das Größte, wenn ich nur ein Gesicht sehe, in dem sich während unseres Auftritts diese Freude widerspiegelt. Eine schöne Zeit – um zu geben und zu nehmen.“
Nerita Pokvytytė, Koloratursopranistin – seit der Spielzeit 2014/15 am Theater Bremen
„Ich freu mich am meisten auf den Zufall auf der Bühne.“
Christoph Heinrich, Bass – seit der Spielzeit 2010/11 am Theater Bremen
„Mit Abstand das Schönste ist für mich, wieder mit Kolleg*innen gemeinsam zu singen, Musik zu machen und dabei die Energie der anderen zu spüren, aufzunehmen und auszutauschen. Ich freue mich auf die Magie der großen Bühne: wenn man bei einem Live-Auftritt nicht weiß, was passieren wird, weil alles möglich ist und man komplett im Moment sein muss. Auch die spürbare Spannung im Publikum, das Hüsteln, Flüstern und Atmen in der Dunkelheit vor einem, ist durch nichts zu ersetzen.“
Nathalie Mittelbach, Mezzosopran – seit der Spielzeit 2014/15 am Theater Bremen
„‚Mit Abstand das Schönste‘ ist für mich gleichermaßen Warnung und ein Zeichen für Optimismus. Wir befinden uns noch immer in einer Zeit, in der wir nach wie vor Abstand halten und Maske tragen müssen. Aber immerhin können wir wieder das Theater betreten und ein Stück des schöneren Lebens auskosten. Zwar müssen wir noch achtsam sein, aber dieser Abend im Theater ist immerhin wie ein kleiner Sonnenstrahl, der durch die Wolken blitzt.“
Stephen Clark, Bass – seit der Spielzeit 2019/20 am Theater Bremen
„Mit Abstand das Schönste ist, was es immer ist: das große Privileg mit dem eigenen Singen große Freude und auch Schmerz ausdrücken zu können. Das zu tun, mit Kolleg*innen und nicht allein im Wohnzimmer, ist besonders bewegend nach so einer langen Zeit der Abwesenheit. Spielen, hören, singen, proben – das alles mit anderen zu teilen, ist ein Akt der Solidarität.“
Patricia Andress, Sopranistin – seit der Spielzeit 2007/08 am Theater Bremen
„Für mich ist das Schönste: wieder szenisch zu proben, mich mit anderen auszutauschen und mich von einem Team inspirieren zu lassen. Dazu gehört für mich die intensive Beschäftigung mit einer Rolle, nicht zuhause, sondern mit einer/m Regisseur*in, mit Pianist*innen, im Probekostüm auf einer Probebühne zu stehen, um es nach einer intensiven Phase auf der großen Bühne dem Publikum zu präsentieren.“
Nadine Lehner, Sopranistin – seit der Spielzeit 2004/05 am Theater Bremen. Sie probt gerade parallel an Poulencs „Die menschliche Stimme / La voix humaine“
„Für mich ist mit Abstand das Schönste nach einem halben Jahr ‚ohne Oper‘, das Haus wieder zu betreten und schon auf dem Hof von Musik, von gesungenen Tönen begrüßt zu werden. Musik ist wie Wasser: Wir brauchen sie und sie findet immer ihren Weg auch durch Mauern, Kontaktbeschränkungen und Hygienevorgaben. Miteinander auf der großen Bühne zu stehen, mit Kolleg*innen einen Bogen wieder gemeinsam zu gestalten, gemeinsam ein piano auszukosten, das ist durch nichts zu ersetzen. Ich küsse ja auch nicht den Bildschirm meines Computers.“
Ulrike Mayer, Mezzosopranistin – seit der Spielzeit 2012/13 am Theater Bremen