Eine Umarmung, eine Begegnung, ein Geschenk
Regula Schröter und Simone Sterr im Gespräch mit Verena Reichhardt über den Zauber des Briefverkehrs
Ihre letzte Rolle als festes Ensemblemitglied war Mary Thyrone in Eines langen Tages Reise in die Nacht von Eugene O´Neill. Offiziell ist sie bereits pensioniert, inoffiziell spielt sie aber weiter. Zur großen Freude des Ensembles, des Publikums und der Regisseur*innen. Verena Reichhardt hat aber noch eine zweite Leidenschaft, die erst durch das Briefwechsel-Projekt entdeckt wurde: Sie ist eine begeisterte Briefeschreiberin.
Simone Sterr: Als du von der Idee gehört hast, dass wir während der Einstellung des Spielbetriebes mit unseren Zuschauer*innen in Form von persönlichen Briefen in Kontakt bleiben wollen, warst du sofort begeistert und wolltest unbedingt mitmachen. Warum findest du Briefe schreiben und Briefe bekommen so schön?
Verena Reichhardt: Den Briefkasten zu öffnen und nicht nur Rechnungen, Amtsschreiben oder Reklame vorzufinden, ist wahrhaftig beglückend.
Regula Schröter: Kannst du dich an deinen ersten Brieffreund erinnern oder an deine erste Brieffreundin? Und wie ging es dann in deinem Leben weiter mit dem Briefe schreiben?
Verena Reichhardt: Den ersten Brief bekam ich mit acht Jahren von einem Mitschüler. Es gab eine längere Passage über das Wetter und der Mittel- und Höhepunkt des Briefes lautete: Ich schreibe Dir, weil ich Dich sehr nett finde (Dich sehr nett war von roten Herzen umrahmt). Das hat mich wirklich sehr positiv berührt und ein Gefühl ausgelöst, das ich nicht kannte. Es ist aber keine Brief- oder andere Freundschaft daraus entstanden. Später hatte ich dann verschiedene Brieffreundschaften, meist nicht länger als ein Jahr. Ich hatte auch Brieffreundschaften in die Türkei, nach Frankreich, nach Italien. Und dann hatte ich den ersten „richtigen" Freund; wir haben uns ziemlich viele Briefe geschrieben, auch als wir nicht mehr „zusammen“ waren. In der damaligen Zeit war das nicht allzu unüblich; Telefone gab es nicht so viele, Handys gar nicht, das Fernsehprogramm war viel kürzer, Computer gab es auch nicht und viel weniger Bahn- und Busverbindungen. Alles funktionierte langsamer ... Während meiner ersten Ehe hatte ich mehrere Brieffreundinnen verschiedenen Alters und über lange Zeit.
Simone Sterr: Bist du eher romantisch – Parfüm auf´s Papier gesprüht und Locke unter die Unterschrift geklebt – oder eher inhaltlich – eng beschriebene Blätter auf schmucklosen Briefbögen?
Verena Reichhardt: Die Art des Briefes kennt keine Grenzen, außer, dass man ihn mit der Post verschicken können muss. Welches Papier, welche Farbe, welche Größe, welche Form, ob Tinte, Kuli, Bleistift, Buntstift, Filzstift, Füller, Feder ... mit Papierbildchen Zeichnungen, Locken, Pressblumen. Großschrift, Kleinschrift, Druckschrift ... kommt drauf an, für wen er bestimmt ist und was der Inhalt ist.
Regula Schröter: Gibt es einen Brief, den du bekommen hast, den du nie vergessen wirst und gibt es einen, den du niemals abgeschickt hast?
Verena Reichhardt: Es gibt einen Brief, den ich erst Jahre später erhalten habe, aus Amerika, und als ich zurückschrieb: „return to sender, adress unknown!“ Nach noch ein paar Jahren haben wir uns via Internet wiedergefunden und einige sehr besondere Briefe geschrieben. Es vergingen fast 40 Jahre dazwischen. Jetzt mailen wir nur noch manchmal oder liken auf Facebook. Ich habe bislang keinen bösen, hässlichen, beschimpfenden Brief erhalten. Einen einzigen Brief habe ich nie abgeschickt. Es gibt ihn noch und den Empfänger auch und vielleicht werde ich ihn irgendwann doch abschicken. Das Porto ist inzwischen erhöht, muss ich also noch mehr draufkleben.
Regula Schröter: Hast du noch ständige Brieffreundschaften? Wo sind sie?
Verena Reichhardt: Die meisten meiner Brieffreund*innen sind gestorben. Ich habe noch ein paar wenige Kontakte, aber wir schreiben uns nur ein oder zweimal im Jahr. Das Briefprojekt am Theater hat für mich die Besonderheit mit einem mir ganz unbekannten Menschen zu schreiben, das hatte ich nur einmal kurz als Kind ...
Regula Schröter: Bewahrst du Briefe auf?
Verena Reichhardt: Ja. Fast alle. Gebündelt, nach Personen geordnet in einer ziemlich großen Kiste. Manchmal lese ich welche.
Simone Sterr: Liest du Briefwechsel berühmter Menschen, hast du literarische Briefwechsel, die dir besonders nahe sind?
Verena Reichhardt: Virginia Woolf und Mary Sackville-West, aber auch die Briefwechsel der Brüder Grimm sind mir besonders in Erinnerung geblieben.
Simone Sterr: Per SMS Schluss machen, via WhatsApp kondolieren, in persönlichen E-Mails Intimitäten austauschen. Das geht doch alles. Und doch offenbart sich in so einem handgeschriebenen echten Brief noch etwas anderes. Was ist das?
Verena Reichhardt: Der geschriebene Brief ist ein Geschenk, eine Umarmung, eine Begegnung. Er besteht nicht nur aus dem Inhalt der Worte, sondern auch seinem Erscheinungsbild. Für mich ist er lebendiger als eine Mail oder WhatsApp oder SMS. Ich lese auch lieber in einem Buch mit Papierseiten als in einem E-Book. Einmal habe ich mit meiner Großnichte ein Bilderbuch angeguckt und sie drückte darauf rum und war fast enttäuscht, dass sich nichts bewegte, auch wenn ich noch so viel dazu erzählte. Wahrscheinlich ist es zum Teil ein Unterschied der Generationen; ich bin noch mit Briefen großgeworden und möchte sie nicht missen. Das Warten, die Vorfreude, das Anfassen. Eine Todesnachricht, einen Beziehungsschluss oder Kündigung würde ich nie elektronisch abwickeln. Nie, nie, nie, auch wenn es schneller geht. Mir gefällt die Langsamkeit.