Faszination Adel
Über gebügelte Schnürsenkel und Privilegien von Geburt an: Warum uns die Königshäuser in den Bann ziehen. Ein Text von Süddeutsche Zeitung-Redakteurin Kerstin Lottritz.
Als Elizabeth II. am 2. Juni 1953 in der Westminster Abbey die Krone aufgesetzt bekam, haben weltweit geschätzt 277 Millionen das Spektakel am Fernseher verfolgt. Als 60 Jahre später, Prinz George, Ur-Enkel von Queen Elizabeth II. und übernächster britischer König, am 22. Juli 2013 zur Welt kam, da harrten Dutzende Journalisten schon seit Tagen vor dem Krankenhaus aus und informierten die Welt in Live-Blogs, ob das „Royal Baby“ sich nun noch innerhalb des Mutterleibs oder bereits außerhalb befand.
Das Interesse an der britischen Königsfamilie, aber auch an anderen europäischen Königshäusern, ist enorm. Warum eigentlich?
Es geht um Menschen, die Privilegien genießen, die sie nur deshalb besitzen, weil sie in eine bestimmte Familie geboren wurden. Diese Privilegien, so skurril sie auch erscheinen, machen sie offenbar zu besonderen Menschen: Sie müssen keine Autotür öffnen, der Tee wird ihnen eingegossen und läuft mal die Tinte aus dem Füllhalter aus, wird genervt nach einem Bediensteten gewinkt, der das Malheur aufwischt.
Der britische König Charles, so heißt es, lasse sich die Schnürsenkel bügeln und habe auf Reisen stets seinen eigenen Toilettensitz dabei.
Es ist eine Mischung aus Voyeurismus, Staunen, aber auch Bewunderung, gar Neid, die dieses öffentliche Interesse am europäischen Adel noch heute aufrechterhält, obwohl der Adel längst seine politischen Privilegien verloren hat. Seit der Demokratisierung Europas liegt in den meisten europäischen Monarchien die Entscheidungsgewalt mittlerweile beim Parlament, der Monarch oder die Monarchin können kaum noch Einfluss auf die Staatsgeschäfte nehmen. Gleichzeitig formieren sich Monarchiegegner, die je nach Beliebtheit des Regenten laut oder weniger laut sind, um auch die finanziellen und gesellschaftlichen Privilegien abzuschaffen.
Denn noch immer können Königsfamilien sehr gut auf Kosten ihres Volks leben: Sie erhalten beispielsweise Zahlungen aus den jeweiligen Steuereinnahmen ihres Landes.
Auch die Schlösser und Paläste, in denen sie wohnen, werden meist durch Steuern finanziert. In Deutschland wurde mit der Weimarer Verfassung bereits 1919 der Adel zumindest rechtlich abgeschafft. Der Jurist Kurt Kleefeld war der letzte Bürgerliche, der als Anerkennung für seine geleisteten Dienste in den Adelsstand erhoben wurde. Heute würde man dafür von seinem Arbeitgeber eine Bonuszahlung oder einen zusätzlichen Urlaubstag bekommen. Eine kleine Anerkennung statt einer finanziellen und gesellschaftlichen Absicherung auf Generationen.
Dem deutschen Adel fällt es vermutlich auch deshalb noch immer schwer, auf bestimmte gesellschaftliche Privilegien zu verzichten.
So lässt sich beispielsweise eine gewisse Unternehmerin, die aus einer alten Familie des Hochadels stammt, auch heute noch gerne mit „Fürstin“ ansprechen, obwohl Adelstitel als Anrede längst abgeschafft sind. Und dennoch: Obwohl dem Adel in Deutschland seine rechtlichen Privilegien genommen wurden, sind seine Vertreter weiterhin Teil einer gesellschaftlichen Elite. Überproportional viele deutsche Adelige besetzen politische Ämter oder hohe Positionen in der Wirtschaft – und haben somit auch heute noch Einfluss auf für die Gesellschaft wichtige Entscheidungen.
Über die Autorin:
Kerstin Lottritz studierte Journalistik und Politik in Dortmund und absolvierte ein Volontariat bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in Essen. Seit 2016 ist sie Redakteurin bei der Süddeutschen Zeitung im Ressort Panorama und plant mittlerweile als Chefin vom Dienst die aktuelle Berichterstattung.
Veröffentlicht am 9. Oktober 2023